Rebellische
Kinder im Tropical Loveland
Vier
Jahre nach seinem stark autobiographisch geprägten und mehrfach preisgekrönten
Erstlingsroman "Funny Boy" stellt der 1965 in Sri Lanka geborene
und 1983 mit seiner Familie vor anti-tamilischen Pogromen nach Kanada geflüchtete
Shyam Selvadurai nun seinen neuen Roman "Die Zimtgärten" vor.
Ein Kolonialroman für eine post-postkoloniale Zeit, findet Claas Sudbrake
Ceylon, 1927/28. Eine Insel, eine Gesellschaft im Umbruch. Die englische
Donoughmore Kommission prüft, ob und wie das Empire seiner Kolonie als
erstem asiatischen Land mehr Unabhängigkeit geben kann, Frauen- und Gewerkschaftsbewegungen
gründen sich, das allgemeine Wahlrecht wird diskutiert und im Pokerspiel
um die Macht treten erste Klüfte zwischen den ethnischen und religiösen
Gruppen Ceylons auf. Symbolischer Schauplatz dieses Umbruches sind die Cinnamon
Gardens, die Zimtgärten. Früher einmal eine koloniale Zimtplantage,
haben sie sich zum noblen tamilischen Vorort der Hafenstadt Colombo gemausert.
Eine Welt für sich, eine Kolonie innerhalb der Kolonie, in der der Schein
mehr zählt als das Sein und die Aufrechterhaltung des Status Quo wichtiger
ist als die Suche nach dem privaten Glück. Aber so, wie sich ein ganzes
Land auf den Weg von der Fremd- zur Eigenbestimmung aufmacht, sind auch die
Bewohner der Zimtgärten hin und her gerissen zwischen alten Traditionen
und europäischen Werten. Der Generationenkonflikt ist vorprogrammiert.
Selvadurai präsentiert ihn anhand der beiden Protagonisten, die jeder
für sich den Kampf um die persönliche Dekolonialisierung und gegen
die Zwänge und Pflichten des britischen Kolonialismus und der sexistischen
tamilischen Traditionen aufnehmen: Annalukshmi, Anfang 20, die junge Schullehrerin
und Tochter einer christlich-tamilischen Familie, und ihr Onkel Balendran,
Anfang 40, der verheiratete Sohn eines reichen Großgrundbesitzers und
einflussreichen Patriarchen. Beide überschreiten die Grenzen der sexuellen
Normen: Annalukshmi, indem sie sich den Hochzeitsplänen ihrer Familie
widersetzt, und Balendran, indem er sich den Zorn seines Vaters zuzieht, als
dieser seine homosexuelle Beziehung zu einem jungen Engländer während
seiner Studienzeit in London entdeckt. Aber obwohl diese beiden Charaktere
auf vielerlei Weise miteinander verknüpft sind, gehen sie mit den sozialen
Zwängen und Konflikten, die ihnen aufgrund ihrer Transgression entstehen,
sehr unterschiedlich um.
Family
issues
Annalukshmi
steht vor der Wahl: Soll sie ihrer Familie nachgeben und einen Mann heiraten,
den sie nicht liebt, und ein Leben an seiner Seite führen, das sie nicht
will, oder kann sie in die Fußstapfen Miss Lawtons treten, ihrer fortschrittlichen
und unverheirateten Schulleiterin, deren Unabhängigkeit für Annalukshmi
ein Vorbild ist? Annalukshmi trifft mit unbeugsamer Charakterstärke die
Entscheidung, dem Schicksal einer verheirateten Hausfrau zu entgehen
ein Gutteil der komischen Ironie des Romans entspringt ihren listenreichen
Versuchen, die Verkuppelungspläne ihrer Mutter Louisa und ihrer Tante
Philomena zu durchkreuzen. Doch auch ihr neu gewähltes, vermeintlich
unabhängiges Leben hat Schattenseiten, wie Annalukshmi schmerzvoll herausfinden
muss. Es wird belastet durch Komplexitäten, Gefahren und ungeschriebenen
Regeln, die nicht gebrochen werden dürfen.
Balendran, auf der anderen Seite, befolgt die Wünsche seines Vaters,
beendet seine Beziehung zum Engländer Richard Howland, heiratet seine
Cousine Sonia und kehrt zurück nach Ceylon, um den Familienbesitz zu
verwalten. Doch er gerät in ein Dilemma, als die verdrängten Schatten
der Vergangenheit wieder hervorbrechen: Nach zwanzig Jahren kommt Richard
nach Ceylon und bringt Balendrans geregeltes Leben durcheinander. Zerrieben
zwischen der wieder aufkeimenden Leidenschaft für Richard und seiner
Rolle als treuer Ehemann und gehorsamer Sohn bröckelt das Fundament,
auf das Balendran sein Leben gebaut hat.
So wie uns der Roman durch die Gefühle, die Hochs und Tiefs der Charaktere
führt, veranschaulicht er, wie Annalukshmi bei der Betrachtung eines
Gemäldes erkennt, "wie wichtig es ist, sich selbst treu zu bleiben."
Balendran ist es, der auf das meiste in seinem Leben verzichten musste: Indem
er sich in die sozialen Normen der Sexualität konformierte, heiratete
und eine heterosexuelle Fassade aufbaute, beging er das größte
Unrecht gegenüber sich selbst. Balendran lebt das Buch hindurch als anständiger
und ordentlicher, aber schwacher Mann, kleingehalten durch seinen dominierenden
Vater, geplagt von Schuldgefühlen gegenüber seiner Frau, verstört
durch seine Entscheidung, die Beziehung zu Richard abzubrechen trotz seines
Eingeständnisses des Begehrens und der tiefgehenden Freundschaft zwischen
ihnen.
Erst seine Erkenntnis der Täuschungen, Betrügereien und Machtspiele,
die hinter den goldenen Portalen, duftenden Gärten, luftigen Verandas
und eindrucksvollen Speisesälen der Reichen von Cinnamon Gardens ablaufen,
befähigt ihn zum Befreiungsschlag. Es ist ein symbolträchtiger Akt
der Subversion, wenn Balendran sich am Ende des Romans an den Schreibtisch
seines Vaters setzt und dessen Federhalter benutzt, um Richard einen Brief
zu schreiben, in dem er ihn seiner Liebe und dem Bedürfnis nach Unterstützung
versichert. Trotz allem aber kann er den Rahmen seiner familiären Bande
und der Ehe, der er sich verpflichtet hat, nicht sprengen und verharrt im
Gegensatz zu der eine Generation jüngeren Annalukshmi innerhalb der Wände
seiner eigenen restriktiven Moralvorstellungen.
Der
Preis der Freiheit
"Die
Zimtgärten" ist zwar ein historischer Roman, kann aber auch als
Metapher für die Gegenwart angesehen werden und erlaubt möglicherweise
sogar einen Blick in die Zukunft. Die post-koloniale Phase Sri Lankas war
und ist noch geprägt vom Aufbau eines Nationalstaates, in dem die britisch-imperiale
Herrschaft durch eine zentralistische, mehrheitlich singhalesische Herrschaft
ersetzt wurde. Der Preis der Unabhängigkeit, das Thema des Romans, ist
im realen Leben ein blutiger Bürgerkrieg zwischen ethnischen und religiösen
Gruppen. Selvadurai siedelt seinen Roman genau dort an, wo alles anfing, wo
die entscheidenden Fragen gestellt wurden: Wird Ceylon mit dem Rückzug
der Engländer ein Stück weit unabhängiger? Wird sich das allgemeine
Wahlrecht nachteilig auf ethnische und religiöse Minderheiten auswirken?
Werden die Unterdrückten selbst zu Unterdrückern? Mit seiner Fokussierung
auf die Rolle der weichenstellenden Donoughmore Kommission, die Frauen- und
Gewerkschaftsbewegung und dem schwulen Thema, ist der Roman ein Plädoyer
für eine multikulturelle, vielfältige Gesellschaft, wo die Macht
auf alle verteilt ist und wo alle Bürger gleich behandelt werden. Oder
wie es Balendran, einer der Hauptcharaktere des Romans, formuliert: Die Gesellschaft
Sri Lankas ist "wie ein arabisches Mosaik. Nehmt ein Steinchen heraus,
und man macht das ganze Muster kaputt." Auf der Suche nach zukünftigen
Lösungen für gegenwärtige Probleme könnte man den Roman
deshalb auch gut untertiteln: Als Kolonialroman für eine post-postkoloniale
Zeit.
Shyam Selvadurai: Die Zimtgärten. Roman, Verlag Kiepenheuer &
Witsch, 480 S., geb., 45,00 DM