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Geradlinig und unbeugsam


Eine Vortragsreihe in München, Ausstellungen in München und Berlin, Feiern in München und Aquila – alles aus Anlaß des 175. Geburtstages von Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895). Der Vorkämpfer von einst kann auch heute noch in vielem Vorbild sein, meint Wolfram Setz

Der 175. Geburtstag von Karl Heinrich Ulrichs ist mehr als eine Zahlenarabeske. Der §175 steht für Ulrichs’ Scheitern, und gescheitert ist er gewiß nicht wegen mangelnder Anstrengungen (die Sache der "Urninge" hat er bis zu seinem Tod nicht aus den Augen verloren), sondern weil die Strömungen der Zeit gegen ihn waren. Auf den "ersten Schwulen der Weltgeschichte" (so der Frankfurter Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch in einem streitbaren Essay, der gerade im Verlag rosa Winkel erschienen ist) war die Welt noch nicht vorbereitet. Sigusch hat auf zitierenswerte Weise zusammengefaßt, was Ulrichs für die Urninge geleistet hat: "Viel von dem, was eine ‘Bewegung’ ausmacht, nahm Ulrichs als Einzelkämpfer voraus: öffentliche Widerreden, Demonstrationen und Anklagen; Streitschriften und Eingaben an die Gesetzgeber und ihre Kommissionen; Vernetzung der ‘Genossen’; [...] Auflisten berühmter Männer der Vergangenheit, die Männer geliebt haben sollen; Androhen, namhafte Urninge der Gegenwart als solche zu entlarven, heute Outing genannt; [...] Konzeption eines "Urningsbundes"; [...] Gründung der ersten Zeitschrift für sie; und nicht zuletzt das, was erst einhundert Jahre später kollektiv möglich wurde: öffentliches Sichbekennen, heute Coming out genannt - alles, wohlgemerkt, nicht im 20. Jahrhundert, sondern bereits vor 130 Jahren."

Von Aurich nach Aquila

Von Ostfriesland nach Mittelitalien - das ist keine "normale" Biographie im 19. Jahrhundert. Ulrichs studierte Rechtswissenschaft; eine Laufbahn im Staatsdienst war vorgezeichnet, aber schon bald schied er aus dem "öffentlichen Dienst" aus, um einem Disziplinarverfahren zuvorzukommen. Der Vorwurf: "Erregung öffentlichen Ärgernisses". Praktisch bedeutete das ein Berufsverbot wegen Homosexualität. Zu einem gesicherten Einkommen hat es Ulrichs nie mehr gebracht. Umso bemerkenswerter, daß er trotzdem die Energie aufbrachte zu seinem Kampf um das Recht der Urninge. Die Reise nach München zum Juristentag 1867 konnte er aus eigenen Mitteln nicht bezahlen, Freunde halfen ihm. Als Liberaler großdeutscher Gesinnung sprach er sich öffentlich gegen die Annektierung Hannovers durch Preußen aus und wurde zweimal verhaftet. Als er 1867 nach München reiste, lag seine zweite Festungshaft erst wenige Wochen zurück!

Der zweite Bruch in der Biographie: "Nach mancherlei Kämpfen, nichtpolitischer und politischer Natur, habe ich, der gegenwärtigen Gestaltung Deutschlands principiell abgeneigt, das Vaterland, in dem mir Unrecht geschehen, 1880 verlassen." In Aquila in den Abruzzen fand er in der Herausgabe einer kleinen Zeitschrift für Freunde der lateinischen Sprache eine neue Aufgabe, die ihn wieder weltweit mit Freunden in Kontakt brachte.

Die eindrucksvolle Grabplatte wurde nicht dem Vorkämpfer der Urninge, sondern dem Latinisten Karl Heinrich Ulrichs gesetzt. Initiator war Marchese Niccolò Persichetti, Ulrichs Freund und Gönner. In den letzten Jahren ist das Grab zu einer schwulen "Pilgerstätte" geworden: Am 28. August 2000 findet am Grab eine internationale Gedenkfeier statt. Zuvor wird in München gefeiert: am 26. August, 14.00 Uhr, auf dem "Karl-Heinrich-Ulrichs-Platz" (den es seit 1998 gibt).

München, 29. August 1867

Dieser Tag verdeutlicht wie kein anderer Ulrichs’ Kampfgeist - und sein Scheitern. Als Mitglied des 1860 gegründeten Deutschen Juristentages, der sich u. a. zum Ziel gesetzt hatte, die Rechtseinheit in den deutschen Staaten zu fördern, stellte Ulrichs zusammen mit seinem Freund (und Nicht-Urning) August Tewes, Professor in Graz, den Antrag, "daß angeborne Liebe zu Personen ähnlichen Geschlechts [...] straflos bleibe, solange weder Rechte verletzt werden (durch Anwendung oder Androhung von Zwang, durch Mißbrauch unmannbarer Personen, bewußtloser etc.) noch öffentliches Ärgerniß erregt wird." Dieser Antrag wurde, so das offizielle Protokoll, "unterdrückt", weil allein schon seine Verlesung "die tiefste Indignation bei allen Anwesenden erregen müßte, weil er im schroffsten Widerspruch nicht blos mit der positiven Gesetzgebung, sondern auch mit dem natürlichen Schamgefühl des Menschen steht."

Aber dennoch: Ulrichs war sich der historischen Bedeutung dieses Tages durchaus bewußt: "Gegen tausendjähriges Unrecht habe ich offen und frei Protest erhoben." Neben der Moral stand ihm vielfach auch bloßes Unverständnis entgegen. Zwei Teilnehmer der Tagung in der Pause: "Was ist denn das für ein Volksstamm, der solchen Verfolgungen ausgesetzt ist?"

"Naturwissenschaftlicher Irrthum" oder "Antipathie"?

Ulrichs war anfangs optimistisch, die Verfolgung der Homosexuellen werde in kurzer Frist der Vergangenheit angehören, denn es gehe ja nicht um Sympathie oder Antipathie, "sondern um einfache Hinwegräumung eines naturwissenschaftlichen Irrthums durch nackte Gründe und sodann um nackte Gerechtigkeit." Doch die Antipathie war stärker. Selbst kluge Köpfe hatten (und haben) ihre Vorurteile. So schrieb am 22. Juni 1869 Friedrich Engels an Karl Marx (der ihm eine der Schriften Ulrichs’ geschickt hatte): "Das ist ja ein ganz kurioser ‘Urning’, den Du mir da geschickt hast. Das sind ja äußerst widernatürliche Enthüllungen. Die Päderasten fangen an sich zu zählen und finden, daß sie eine Macht im Staate bilden. Nur die Organisation fehlte, aber hiernach scheint sie bereits im geheimen zu bestehen. [...] Es ist nur ein Glück, daß wir persönlich zu alt sind, als daß wir noch beim Sieg dieser Partei fürchten müßten den Siegern körperlich Tribut zahlen zu müssen."

Ulrichs’ Theorie der Homosexualität (Uranismus) und sein jahrzehntelanger Kampf mit Denkschriften, Eingaben und Protesten sind vor allem dokumentiert in 12 mehr oder weniger umfangreichen Büchern, die zwischen 1864 und 1879 erschienen sind (davon elf in der kurzen Zeitspanne von 1864 bis 1870): "Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe" (ein kommentierter Nachdruck erschien 1994 im Verlag rosa Winkel).

Das berühmte Jahr 1869 hält nicht nur die oft zitierte Passage aus dem Briefwechsel Marx / Engels bereit, sondern bietet wie in einem Spiegel die unterschiedlichsten Reaktionen auf das, was durch Ulrichs zum Thema öffentlicher Diskussion gemacht worden war. Im selben Jahr erschien anonym ein Pamphlet mit dem Titel "Venus Urania" (Ulrichs’ Kommentar: eine "Pest athmende Schrift"), Autor war der Würzburger Medizinprofessor Alois Geigel. Auch er wollte mit Ulrichs nichts zu tun haben: "Herr Ulrichs! Verschwinden Sie! Kaufen Sie sich gefälligst mit Ihren 25000 Urningen am Nordpol an, aber verschonen Sie gütigst unsere deutsche Erde mit Ihrer Gegenwart!" (Bei einem gewissen FJS wurde daraus hundert Jahre später Alaska.)

Daß Mediziner auch anderer Meinung waren, zeigt das nüchterne Votum der "Kgl. Preußischen Deputation für das Medicinalwesen zu Berlin", zu der u. a. Rudolf Virchow gehörte. Sie gab am 24. März 1869 ihr Votum ab, in dem es heißt, dass "eine zwischen männlichen Personen ausgeführte Nachahmung des Coitus ... im wesentlichen ebenso wie der gewöhnliche Coitus nur durch den Exzeß nachtheilig werden kann". Zur Frage, ob "Unzucht zwischen Personen männlichen Geschlechts" eine "besondere Unsittlichkeit" darstelle, wollte man sich nicht äußern. Dies übernahm die Politik - bis hin zum §175 als Geschenk der Reichseinheit 1871. Der "preußische Paragraph" (Ulrichs) konnte damit sein "Herrschaftsgebiet" ausweiten und noch einmal eine mehr als 120 Jahre dauernde Herrschaft entfalten. Die Nationalsozialisten - und daran wurden wir in diesem Jahr durch die Ausstellungen in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen und im Schwulen Museum Berlin erinnert - steigerten seine zerstörerische Macht: vielen Homosexuellen brachte er fortan nicht nur Gefängnis und Zuchthaus, sondern Konzentrationslager und Tod.

Ulrichs als Dichter

Der 175. Geburtstag kann auch Anlaß sein, sich ausführlicher mit dem Menschen Karl Heinrich Ulrichs zu befassen. Neben die Bewunderung für den Aktivisten tritt dann vielleicht Sympathie für einen umfassenden Dilettanten, der sich auf vielen Gebieten betätigt hat, nicht zuletzt als Sänger der "urnischen Liebe". Er war überzeugt von der "Idealität der urnischen Liebe". Seine Schriften enthalten eine reiche Auswahl literarischer Zeugnisse. Einige hat er selbst beigesteuert; sie illustrieren nicht selten seine Wunschphantasie: "Wenn jetzt ein Soldat durch’s Fenster kletterte und zu mir in’s Zimmer stiege!" Ein Beispiel: "Blonder Bursch mit dem Veilchenblick / Aus den dunkelblauen Augen, / Meine Ruh hast du mir geraubt: / Gieb mir wieder meinen Frieden!" (niedergeschrieben in der Nacht zum 27. Mai 1865).

Ulrichs und die Homoehe?

Einige seiner Vorstellungen und Forderungen tragen aber auch deutlich den Stempel seiner Zeit. Als 1997 in der Wochen-Soap "Lindenstraße" schwul geheiratet wurde, zitierte Hella von Sinnen Ulrichs als Kronzeugen für die Forderung nach der Homoehe: "1865 wurde erstmals in diesem unseren Lande die Forderung nach gleichgeschlechtlicher Ehe laut." Selbstverständlich forderte Ulrichs die gesellschaftliche Anerkennung der Urninge und "eine sanctionirende äußere Form" für urnische Liebesbündnisse. Die BGB-Ehe kam erst nach seinem Tod, und deren bloße Kopie würde ihm kaum gefallen haben. Die Erlebniswelt der Urninge war nach seiner festen Überzeugung nicht einfach in die Welt der "Dioninge" zu integrieren. "Die dionäische Majorität aber hat gar kein Recht, die menschliche Gesellschaft ausschließlich dionäisch zu konstruiren ..."