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Gebt den Frauen lieber Rechte!


Die Ausrufung der Türkischen Republik am 29. Oktober 1923 durch Mustafa Kemal Pascha, genannt Atatürk, brachte Frauen eine grundlegende Veränderung ihres gesellschaftlichen Status’. Doch trotz aller Fortschritte scheinen sie heute von tatsächlicher Gleichberechtigung noch ein Jahrhundert entfernt. Eine Recherche von Eike Stedefeldt

Insbesondere die Säkularisierung zog radikale Reformen nach sich. Die islamischen Schariah-Gerichte ersetzte man durch eine weltliche Gerichtsbarkeit. Am 8. März 1924 wurden das religiöse Schulsystem abgeschafft, die allgemeine Schulpflicht eingeführt und alle Schulen und Universitäten dem Erziehungsministerium unterstellt, was Mädchen und Frauen zumindest prinzipiell den Zugang zu Bildung eröffnete. Der niedrige Alphabetisierungsgrad erhöhte sich danach spürbar. Doch konnten 1990 noch immer 30,7 Prozent der weiblichen Bevölkerung weder schreiben noch lesen; bei der männlichen waren es „nur“ 10,1 Prozent.

Erwartungsgemäß sind Frauen an höheren Schulen in der Minderzahl; 1995 betrug ihr Anteil an den Hochschulen 38,4 Prozent – bei rollentypischer Verteilung auf die Studienfächer: Wurde Hauswirtschaft 1995 zu 80 Prozent von Frauen belegt, waren es bei medizinischen Berufen (darunter vor allem den niedriger qualifizierten) 64, Kommunikationswissenschaften 62, Handel und Kunst 55, Naturwissenschaften 45, Sozialwissenschaften 37 sowie Maschinenbau nur 20 Prozent. Unterdessen ist ein Drittel der Uni-Lehrkörper weiblich. Frauen stellen zwar im internationalen Vergleich beachtliche 20,5 Prozent der Professoren – vom untergeordneten Lehrpersonal aber bereits 56,5 Prozent.

Am 17. Februar 1926 trat das Türkische Bürgerliche Gesetzbuch an die Stelle des alten, stark osmanisch-religiös geprägten BGB und der Scharia; zugleich wurde das Strafrecht reformiert. Dies führte auch zum Verbot der Polygamie, und Ehen erkannte der Staat nur noch an, wenn sie gemäß dem Zivilrecht und nicht in religiösen Zeremonien geschlossen wurden. Anfang der 30er Jahre erlangten Frauen auch politische Rechte: 1930 erhielten sie bei Kommunal-, 1933 bei Gemeinderats- und 1934 bei Parlamentswahlen das aktive und passive Wahlrecht.

Dennoch ist die türkische Frau rechtlich bis heute schlechter gestellt. Dies zeigen nicht zuletzt die scharfen Auseinandersetzungen im Parlament um die seit langem diskutierte Neufassung von Zivil- und Strafrecht. Justizminister Hikmet Sami Türk drohte Mitte April gar mit Rücktritt speziell für den Fall des Scheiterns von Paragraphen zur Frauengleichstellung. Worum es dabei geht, illustriert eine Kolumne der bekannten Fernsehjournalistin Fatih Altayli aus der ansonsten staatstreuen Tageszeitung Hürriyet vom 10. März 2000, in der sie Premier Bülent Ecevit angriff: „Herr Bülent hat den Frauen zum Frauentag mit Blumen gratuliert. Auch unsere Abgeordneten haben diesen Tag gefeiert. Die Frauen haben bloße Worte satt. (...) Wenn Ihr die Frauen so schätzt, dann schenkt ihnen nicht Blumen, sondern stärkt sie mit Gesetzen. Macht ihnen Komplimente, indem Ihr ihnen Gleichheit gewährt! (...) Wo bleibt denn das neue Zivilgesetz? Wo ist das Gesetz, nach dem bei Ehescheidung die Güter gleich verteilt werden? Ist dieses Gesetz verabschiedet? Natürlich nicht! Sind im neuen Strafgesetz Regelungen getroffen worden, nach denen Gewalt in der Familie vermieden und gerecht bestraft wird? Ich glaube es kaum. Werdet Ihr sichern, dass die Ehefrau ohne die Erlaubnis des Gatten berufstätig werden kann? Wird die Frau, die neun Monate lang das Kind austrägt, das Recht erhalten, ihm auch den Namen zu geben? Werden unsere Richter sich dran erinnern, dass vergewaltigte Prostituierte auch Menschen sind? (...) Gebt den Frauen Rechte, Rechte!“

Formal existieren sogar diverse Rechte. 1994 hatte eine offizielle Studie in zwölf Provinzen ergeben, dass 34 Prozent der Verheirateten von ihren Männern geschlagen wer--den. Noch 1997 schrieb der Bürgermeister von Konya in einem „Hochzeitsführer“, der Islam gestatte Män-nern, ihre Frauen „sanft“ zu züchtigen. Schließlich verabschiedete das Parlament 1998 gegen den erbitterten Widerstand der Islamischen Wohlfahrts-Partei ein Gesetz, wonach ein gewalttätiger Ehemann die Familie zu verlassen und Unterhalt zu zahlen hat. Die Behörden haben dies durchzusetzen, selbst wenn die Frau den Mann nicht anzeigt. Meist jedoch greift die Polizei eher schlichtend ein, als dass sie ihn des Hauses verweist.

Dass Sexismus keineswegs ein reines Männerphänomen ist, erweist sich zuweilen drastisch. „Ausgerechnet die Staatsministerin für Frauenangelegenheiten in der Türkei, Isilay Saygin, bezeichnete die in der Türkei praktizierten Jungfräulichkeitstest als ‘Notwendigkeit’“, meldeten die Internationalen Frauen-News im Januar 1998. „Dass mehrere Mädchen in der Türkei sich im Angesicht der Virginitätstests das Leben nahmen, kommentierte die Ministerin mit: ‘Mädchen, die sich das Leben nehmen, weil sie sich dem Test unterziehen sollen, hätten sich irgendwann sowieso umgebracht.’“ Bei allem Zynismus dieser Aussage: Die Ministerin wußte offenbar genau, wovon sie sprach: Seit 1993 stieg die Suizidrate im Südosten der Türkei nach amtlicher Statistik um mehr als 50 Prozent an. Während in westlichen Ländern vor allem Männer Selbstmord begehen, sind es dort zu 80 Prozent Frauen – und von diesen wiederum sind drei Viertel zwischen 13 und 25 Jahren alt – in dem Alter also, wo die Familie den Bräutigam aussucht.

Den Nachweis der Jungfräulichkeit verlangten aber vor allem westanatolische Schulen, Uni-Internate sowie Personalchefs im öffentlichen Dienst. Laut der Frauenorganisation „KADER“ seien die Tests „Ausdruck des grundlegenden Problems in der Türkei, dass nämlich Mädchen und Frauen als Gegenstand der Familienehre betrachtet werden“.

Die Gründe für die Selbstmorde schilderte damals die Journalistin Pelin Turgut am Fall Gonul As-lans, die man bei Sanliurfa halbtot aus dem Euphrat gezogen hatte: „Ihr Vater hatte versucht, sie zu erwürgen und sie dann ins Wasser geworfen. Ihr Verbrechen war es, mit dem Geliebten geflohen zu sein, um sich einer arrangierten Heirat zu entziehen. Sie gehörte nach einer Tradition bestraft, die besagt, dass die Ehre der von einer unkeuschen Tochter besudelten Familie nur durch deren Tod wieder herzustellen ist.“ Die Autorin zitierte Hussein Fidanboy, den Staatsanwalt des Gebiets: „Ich habe alle zwei bis drei Monate einen Fall wie diesen, der tödlich endet. Eine Tochter ist wie eine Ware, deren Preis zwischen fünf und zehn Milliarden Lira (40-80.000 DM) liegt. Ist sie entehrt, verliert die Familie diese Einkunft.“ Kurz darauf verbot das Justizressort die von der Frauenministerin legitimierten Tests.

Unkenntnis der Lage kann man einer Ministerin kaum nachsagen, die 1997 in dem nach der Pekinger Welt-Frauen-Konferenz vorgelegten „Nationalen Aktionsplan“ angekündigt hatte, die Frühverehelichung von Mädchen durch die Anhebung des Mindestalters auf 18 Jahre zu bekämpfen – und damit eine Ursache für die besonders auf dem Land hohe Geburtenrate. Im Schnitt hat heute jede türkische Frau 2,5 Kinder. Aktuell bekommen bzw. haben 8 Prozent der 17-, 15 Prozent der 18- und 23 Prozent der 19-jährigen Mädchen das erste Baby. Die frühe Mutterschaft raubt ihnen oft jede Chance auf ein eigenständiges Leben.

Doch sogar an einer 52jährigen, nach eigenen Aussagen „aus Mangel an Zeit für Sex“ unberührten Ministerin geht die Diskriminierung nicht vorbei. Die Volkszählung vom Dezember 1997 zum Beispiel ignorierte weibliche Berufstätige völlig. Das Formular sah nur ein einziges Feld zur Berufsangabe für jeden Haushalt vor – für den Ehemann. „Sie fragten einfach nicht nach meinem Beruf“, klagte die aus Izmir stammende Saygin nach dem Besuch der Volkszähler. „Nach unserem Zivilrecht ist noch immer der Mann Haushaltsvorstand. Wir sollten uns dafür schämen!“

In der Tat. Laut Regierung gab es 1998 bei rund 64 Mio. Türken ca. 16 Mio. weibliche Arbeitslose über 12 Jahre, von denen 11,5 Mio. (72%) Hausfrauen waren. Die Industrialisierung brachte indes eine dramatische Feminisierung der Landwirtschaft mit sich. Im April 1996 arbeiteten dort nur 32,8 Prozent der Männer, aber 74,7 Prozent der Frauen. Doch die wenigsten beziehen daraus ein eigenes Einkommen: 90,6 Prozent von ihnen sind unbezahlte „Familienarbeiterinnen“. Selbst die Regierung schätzt die Lage negativ ein: „Es gibt eine steuerliche Benachteiligung von selbständigen oder angestellten Frauen gegenüber Männern, vor allem für verheiratete Frauen. Gesetzliche soziale Rechte und Tarifvereinbarungen setzen Grenzen, wenn die Frau verheiratet ist.“ Zudem ist der Organisationsgrad niedrig; 1997 verzeichnete die amtliche Statistik knapp 2,8 Mio. Gewerkschaftsmitglieder, von denen aber nur gut 370.000 weiblich waren.

Wie stabil die Männermacht ist, zeigt auch die politische Repräsentanz. Erstmals 1935 kandidierten Frauen für die Große Nationalversammlung. Unter den 395 Gewählten waren 18 Frauen. Jene 4,6 Prozent sind bis heute der höchste Anteil von Frauen im Parlament geblieben. Nach Einführung des Mehrparteiensystems 1946 sank er rapide. Noch geringer ist er in den Provinzparlamenten: 1984 stellten Frauen dort 0,3 Prozent der Abgeordneten, 1994 erst 0.8 Prozent. Bürgermeisterposten halten sie nur zu 0,4 Prozent, und ganze drei von 806 Gouverneuren sind weiblich.

Im Justizsystem sind nur 18 Prozent der Richter und Staatsanwälte, 29 Prozent der Anwälte und 15,5 Prozent der Notare Frauen. In der nach Millonen zählenden Armee gab es 1997 exakt 483 Offizierinnen und 4654 weibliche Zivilangestellte.

Mit rund 20 Prozent ist auch die Zahl von Frauen im diplomatischen Dienst relativ niedrig. Entsprechendes Aufsehen erregt die Ernennung einer Botschafterin. So wird am 1. Juni 2001 erstmals eine Frau die Türkei in einem arabischen Land vertreten. Staatspräsident Sezer überreichte Hilal Baskal am 1. Mai die Ernennungsurkunde zur Großbotschafterin in Bahrain. „Damit betont Ankara gegenüber den arabischen Staaten die Bedeutung, die ein liberales islamisches Land der Gleichberechtigung von Mann und Frau beimisst“, kommentierte das Massenblatt Hürriyet stolz.

Ansonsten ist das mediale Bild der Frau ein anderes – sogar nach Ansicht der Regie-rung „undifferenziert“ und „reflektiert keine weiblichen Standpunkte“. Im Fernsehen würden Frauen „stets als bedauernswerte Individuen oder Opfer gezeigt“. 1993 hatte die Studie „Medien, Gewalt und Frauen“ Zeitungsnachrichten über Gewaltakte untersucht und festgestellt, dass in 7,6 Prozent der Artikel über mit Gewalt konfrontierte Frauen diese durch negative Kommentare herabgewürdigt wurden.

All dies beschreibt die tatsächliche Lage von Frauen in der Türkei jedoch nur unzureichend. Vor allem die oppositioneller Frauen – jener etwa, die sich für die kurdische Minderheit oder Frauenrechte einsetzen. Gerade sie unterliegen massiver Repression, werden verfolgt, bedroht, von „Dorfschützern“, in Polizei- oder Militärgewahrsam gefoltert. Es werden Attentate auf sie verübt oder sie „verschwinden“ spurlos. Da mag sich die Türkei in amtlichen Verlautbarungen und Medien noch so demokratisch präsentieren: 15.000 politische Häftlinge, darunter viele Frauen, sprechen eine andere Sprache.