Adieu
Tristesse. Bonjour Tristesse.
Hierzulande wurde Mireille Best mit dem Roman 'Es gibt keine Menschen im Paradies'
bekannt. Im jetzt auf Deutsch vorliegenden 'Camille im Oktober' beschreibt sie
die Qualen des "Normalseins" Mitte des letzten Jahrhunderts. Von Lizzie Pricken
Der Roman Camille im Oktober erschien in Frankreich bereits 1988
und ist in einer dortigen Kleinstadt der 50er und 60er Jahre angesiedelt. Im
Mittelpunkt stehen das Mädchen Camille und der alltägliche Wahnsinn
der Normalität, dem es ausgesetzt ist. Camille leidet, genau wie ihre Schwester
Ariane und ihr Bruder Abel, unter der Durchschnittlichkeit und dem Desinteresse
ihres Vaters, der als Stahlarbeiter und Kriegsgefangener in jungen Jahren nur
die rohen Seiten des Lebens kennengelernt hat und völlig apathisch ist.
Ihre Mutter, zwar eine patente Frau, erschöpft ihre Kreativität jedoch
entweder in der Zubereitung des Abendessens für die Familie oder bestenfalls
im regelmäßigen Klatsch mit den Nachbarsfrauen. Deren trostloses
Dasein versinkt ebenso wie das ihre im Treibsand des Hausfrauenalltags.
Camille, die sich in die Welt der Bücher rettet und in ihrer kindlichen
Direktheit immer wieder versucht, ihren Vater, den sie als das Symbol ihrer
Reduzierung erlebt, umzubringen, wird als Ich-Erzählerin gleichsam der
Maßstab für alles, was um sie herum geschieht. Sie ist anders als
ihre Umgebung, nicht nur, weil sie sich in eine Frau verliebt. Sie hält
bis zuletzt an der Realität dieser Liebe fest und verleugnet sich nicht
selbst dabei, wie eine Bekannte ihrer Mutter. Sie verlässt ihre Kreise,
verschafft sich Bildung und damit den Zugang zur Welt mittelständischer
Intellektueller nur, um dort letztlich die gleiche Selbstverleugnung
vorzufinden. Doch während ihre Schwester von einer anfänglich Vertrauten
schließlich zum provinziellen Backfisch mutiert und ihr kleiner Bruder
seine angestaute Wut auf die Welt nur noch ohnmächtig in epileptischen
Anfällen auszudrücken vermag, nimmt Camille Abschied von diesem Dasein.
Ihr Schicksal ist es jedoch, niemals wirklich irgendwo anders anzukommen.
Die konsequent der Sicht der Kindheit und später der jungen Frau sich bedienende
Erzählung ist eine beklemmende Mischung aus Sätzen, die, zum Teil
ohne Punkt und Übergang, direkt "aus dem Bauch" zu kommen scheinen
und stark mit der haarscharfen, sozusagen "aus dem Off" dargebrachten
Situationsanalyse einer erwachsenen Camille kontrastieren. Nüchtern, fast
sachlich beschreibt diese Stimme die Qual der Menschen auf der Suche nach ihrem
Leben, einer eigenen, sinnerfüllten Existenz und der Unfähigkeit,
die Frage danach überhaupt zu formulieren. Gefangen in einem schier überwältigenden
Dschungel aus unüberschaubaren Gefühlen und der Angst, die Verantwortung
für selbige zu übernehmen, stehen die Figuren der Geschichte einander
im Weg wie Schlingpflanzen, rauben sich gegenseitig den Atem, verstricken sich
mit- und ineinander in einer blinden Hassliebe und töten sich schließlich,
zumindest auf mentaler Ebene. Gerade so, als wäre dies der einzige Ausweg
aus ihrem emotional verarmten Dasein. An einer Stelle spitzt Camilles ältere
Schwester Ariane dieses Gefühl der Verzweiflung zu: "Keine Sorge,
eines Tages gehen wir fort in ein anderes Land. Mit einer echten Sonne. Mit
baumgesäumten Alleen. Mit, ich weiß doch auch nicht, lauter Leuten,
die tanzen und lachen."
Mireille Best versteht es, die Leserschaft teilhaben zu lassen an ihrer Leichenschau;
Kindheitserinnerungen werden geweckt, längst tot geglaubte Leichen aus
dem eigenen Keller erwachen zu Zombies und man fühlt noch einmal die bedrückende
Atmosphäre einer Zeit, in der es offiziell weder Schwule noch Lesben gab
und das Wort 'Homosexualität' hinter vorgehaltener Hand geflüstert
wurde, als seien sie die personifizierte Pest.
Interessant wirkt im Vergleich mit dieser gar nicht allzu weit zurückliegenden
Vergangenheit die Erkenntnis, dass die Befreiungsbewegungen der Frauen wie der
Lesben und Schwulen seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts offenbar doch
in der Breite die Vorstellungen vom Heterodasein revolutioniert haben. Bestes
Beispiel dafür ist Ariane, die den erstbesten Typen, der ihr über
den Weg läuft, heiratet und bei ihm hängenbleibt, weil sie schwanger
von ihm wird. Heutzutage gibt es dagegen beinahe genauso viele alleinerziehende
wie verheiratete Mütter eine bewusst getroffene Wahl zumeist, die
nicht zuletzt von all jenen unterstützt wird, die andere als vermeintlich
bürgerliche Lebensformen verwirklichen.
Die sozialen Auswirkungen dieser Wahl, nach den ureigenen emotional-erotischen
Bedürfnissen zu leben wie es sich viele Lesben und Schwule heute
erlauben , zeigt allerdings auch, dass Sexualität nicht derart banal
sein kann, wie sie, leider auch in Homo-Kreisen, oft propagiert wird. Das verdeutlicht
auch Camille im Oktober.
Mireille Best: Camille im Oktober. Roman, 216 Seiten, Verlag Krug & Schadenberg,
Berlin 2000. 39,80 DM