Kaum
erschienen, ist der Sammelband Nationalsozialistischer Terror gegen
Homosexuelle schon ein Standardwerk. Nicht zuletzt, weil es hinsichtlich
Breite des Themas und Zahl der Beiträge sehr allein auf weiter Flur steht.
Während die Fülle der geschichtswissenschaftlichen Literatur über
den Nationalsozialismus insgesamt und unter verschiedensten Gesichtspunkten
längst Bibliotheken sprengt, lassen sich die grundlegenden Arbeiten zum
Thema der nationalsozialistischen Repression der Homosexualitäten nach
wie vor an wenigen Fingern abzählen. Eine dringende Empfehlung von Stefan Broniowski
Der
Sammelband zeigt vor allem eines: Die große Menge dessen, worüber
man nichts weiß, was noch nicht erforscht ist oder was sogar, auf Grund
fehlender Quellen, nie mehr erforscht werden wird.
So
ist es zum Beispiel ungeheuer bezeichnend, daß sogar die bloße
Zahl der von den Nazis als Homosexuelle Verfolgten unbekannt ist. Bemerkenswerterweise
wird der Ansicht von (schwulen wie nichtschwulen) Zeitzeugen, die zehntausende,
ja hundertausende Opfer vermuteten, von den Fachleuten keinerlei Bedeutung
zugemessen. Vielmehr wird, seit Rüdiger Lautmann, Winfried Grikschat
und Egbert Schmidt 1977 ihre auf recht dürftiger Grundlage vorgenommene
grobe Schätzung 10.000 (es können 5.000, aber auch
an die 15.000 gewesen sein) der Zahl der wegen Homosexualität
in KZ Verbrachten abgaben, diese Zahl immer wieder wiederholt, als ob sich
dabei um eine erwiesene Tatsache und nicht um eine recht ungesicherte Vermutung
handele. Neuere Forschungen dazu scheint es nicht zu geben. Neues, besseres
Quellenmaterial auch nicht. Man wird also sagen müssen: Wie wissen es
nicht und wir werden es vermutlich niemals wissen.
Die
oft geäußerte Befürchtung, manche würden aus politischen
Gründen zu hohe Opferzahlen nennen, geht ins Leere. Was brächte
es ihnen? Mit der Zahl der sechs Millionen als Juden Ermordeter kann ohnehin
keine Opfergruppe konkurrieren. Der Vergleich der Homosexuellenverfolgung
mit anderen Verfolgungen kann gar nicht auf Gleichsetzung hinauslaufen, sondern
wird unweigerlich vor allem die Unterschiede deutlich werden lassen. Im Übrigen
waren vom antihomosexuellen Terror ja nicht nur die Betroffen, die verschleppt
oder ermordet wurden; vielmehr ist es für ein Verständnis dieses
Terrors entscheidend, zu berücksichtigen, daß die Lebenssituation
homosexueller Männer im Dritten Reich wegen des über allen schwebenden
Damokles-Schwertes Entdeckung grundsätzlich entscheidend
beeinträchtigt gewesen ist (Jellonnek). Für alle Homosexuellen
galt (...), und das verbindet das KZ-Opfer und den in der Rückschau auf
den ersten Blick davongekommenen Mann, daß sie alle in ständiger
Furcht vor der drohenden Verhaftung lebten und ihr Recht auf ein selbstbestimmtes
Leben eingebüßt hatten. Diese Gesellschaft gab dem Großteil
der Betroffenen nicht die Möglichkeit, ihr Homosexuellsein jenseits von
Krankheit und Verbrechen zu werten. Homosexuelles Verhalten war vollständig
geächtet und der Homosexuelle war ganz offiziell ein Staatsfeind. Sein
Verhalten wurde als asoziale Triebhaftigkeit mit gemeinschaftsfeindlichen
Folgen fixiert und zur Verfolgung freigegeben, mit der ultima ratio von Terror
und Tod. (Peter von Rönn)
Die
Alltäglichkeit der Bedrohung verführt anscheinend manchmal zu seltsamen
Schlüssen. Die Homosexuellen ähneln mehr den alltäglichen
als den prominenten Feindgruppen des Nationalsozialismus,
schreibt Rüdiger Lautmann und will darum die Homosexuellenverfolgung
zu einem im Rahmen der NS-Gesellschaft normalen, aber nicht stilbildenden
Vorgang herunterstufen. Aber wieso eigentlich herunter?
Wieso ist das Normale und Alltägliche weniger bedeutsam als die Ausnahme,
das Außerordentliche, das Spektakuläre? Gerade das, was nicht aus
dem Rahmen fällt, muß doch wohl als das Grundlegende betrachtet
werden. Gerade die Schwulen wissen doch: Die Normalität ist der Terror.
Recht hat Lautmann daher, wenn er feststellt: Antihomosexualität
ist mit der Regierungsform des Faschismus auf das engste verknüpft.
Tatsächlich sind Faschismen denkbar und es hat sie ja auch gegeben
, die beispielsweise nicht antisemitisch waren. Nicht antihomosexuelle
Faschismen hingegen sind undenkbar.
An
der Übereinstimmung zwischen den Machthabern und der Bevölkerung
in der Frage der Notwendigkeit der Homosexuellenverfolgung gab es nichts zu
deuteln, hält Burkhard Jellonnek zu Recht fest. Charakteristikum
des nationalsozialistischen Terrors gegen Homosexualität ist ja gerade
seine relative Kontinuität mit der Zeit davor und der Zeit danach. Denn
einerseits gilt: Die NS-Maßnahmen sind sozusagen Zutaten, die
auf die geltende Antihomo-sexualität draufsat-teln. (Lautmann)
Und andererseits kann man feststellen: Selbst Homosexuelle, die das
KZ überlebt hatten, wurden nach 1945 erneut verurteilt und mußten
nun in bundesdeutschen Gefängnissen und Zuchthäusern einsitzen.
Sowohl die Gerichte der Besatzungszonen als später auch der BRD und der
DDR übernahmen zunächst die antihomosexuellen Rechts-Vorschriften
des Deutschen Reiches. Allein bis 1969 wurden unter der grundgesetzlichen
Ordnung über 50.000 Personen abgestraft. (Johannes Wasmuth) 1957
erklärte das Bundesverfassungsgericht, daß es sich bei den Strafbestimmungen
nicht um typisches NS-Unrecht handele. Bekanntlich kam es erst 1969 zur Lockerung
des Totalverbots, und erst 1994 fiel der § 175 ganz. In der DDR
waren die Verschärfungen des § 175 aus dem Jahr 1935 bereits
Ende der 40er Jahre als typisch nationalsozialistisch qualifiziert worden.
Einvernehmliche homosexuelle Handlungen wurden nicht mehr bestraft. Eine weitere
Liberalisierung gab es 1968, und 1988 wurde die letzte Homosexuelle
diskriminierende Bestimmung, der Paragraph 151, aus dem Strafrecht gestrichen.
Die
Verfolgung durch Polizei- und Justizapparat ist freilich immer nur ein Teilaspekt
der gesellschaftlichen Repression. Weder in der BRD noch in der DDR war Homosexualität
je mit Heterosexualität gleichberechtigt, waren Homosexuelle oder
eben als Homosexuelle von den Nazis Verfolgte vor Diskriminierung sicher.
Eine der Folgen davon ist das Totschweigen der NS-Verfolgung der
Homosexualität. Auch und gerade die Opfer konnten oder wollten darüber
nicht reden. Mehr als 99% aller homosexuellen Überlebenden haben
uns ihre Geschichte nicht erzählt und werden uns ihre Geschichte nie
erzählen. Sie blieben allein mit der Erinnerung und starben allein mit
der Erinnerung, schreibt Klaus Müller. Wieder hilft der Vergleich
mit der Judenverfolgung, um die Andersartigkeit und Besonderheit der Homosexuellenverfolgung
zu verstehen. Müller nennt die Namen von Elie Wiesel, Viktor Klemperer,
Anne Frank oder Primo Levi: Stellen wir uns vor, wir müßten
die Erinnerung und das Gedächtnis an die Judenverfolgung formen ohne
die Zeugnisse, Erinnerungen und Reflexion der Überlebenden ohne
ihre Stimme. Das ist nur schwer vorstellbar. Und doch ist dies die Situation,
mit der wir uns konfrontiert sehen bei der Rekonstruktion des Schicksals der
Homosexuellen.
Diese
Lücke wird die Geschichtswissenschaft niemals füllen können.
Und es ist nur eine Lücke von vielen, sehr vielen in der Vergangenheit
des nichtheterosexuellen Begehrens und der nichtheterosexuellen Praktiken.
Daran sollten Schwule (und Lesben) gerade dann denken, wenn sie sich anschicken,
sich in die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft integrieren zu lassen. Zu
Recht trug der Kongreß, auf den der hier besprochene Sammelband zurückgeht,
darum den Titel Wider das Vergessen.
Burkhard Jellonnek/Rüdiger Lautmann: Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle. Verdrängt und ungesühnt. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2002. 428 S., 34,80 Euro