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Somewhere Over the Rainbow


Judy Garland war bis in die späten 60er Jahre hinein das Idol der New Yorker Schwulen- und Transen-Szene. Die Trauer um den fünf Tage zuvor in einer öffentlichen Toilette verstorbenen Filmstar, dem das Leben übel mitgespielt hatte, schlug am 28. Juni 1969 anläßlich einer Polizei-Razzia in der Kneipe Stonewall Inn in einen Aufstand um, der alles veränderte. Er wurde zum Auslöser einer neuen militanten Bewegung von Transen, Lesben und Schwulen, die sich mit dem Namen "Gay Liberation" schmückte. Innerhalb kurzer Zeit breitete sie sich von ihrem Zentrum New York weltweit aus. Eine Hommage an Judy von
Georg Klauda (unter Mitarbeit von Eike Stedefeldt)

The day she died the neighbours came to snigger: Well, that’s what comes from too much pills and liquor. But when I saw her lay down like a queen she was the happiest corpse I’ve ever seen. – In dem, was Liza Minelli 1972 im Titelsong des Musicals "Cabaret" über "a girlfriend known as Elsie" sang, konnte, wer sich auskannte und wollte, gut und gern eine Hommage an Minellis eigene Mutter erkennen. Drei Jahre zuvor, am 22. Juni 1969, hatte sich Judy Garland, der einstige Backfisch im weiß-blauen Kleiderrock und mit braver Schleife im Haar, das Mädchen mit den großen, leuchtenden Augen, in einem Londoner Hotel mit einer Überdosis Schlaftabletten ins Jenseits verabschiedet. Nur war "MGM’s Amphetamine Annie" keineswegs jene "fröhlichste Leiche, die ich je gesehen habe". Und noch weniger starb sie einen Tod, der zu dem Glamour-Image unbescholtener Reinheit gepasst hätte, das Metro Goldwyn Mayer von ihr gepflegt hatte, seit sie 1939 mit "The Wizard of Oz" berühmt wurde.

"Dorothy" wie man sie in Hollywood auch nannte, "starb auf dem Klo sitzend, aber das war kein Over-the-Rainbow-Trip. Voll angezogen, dahockend wie in Meditation versunken, war ihr Gesicht ein Klumpen Blut, eine Aztekenmaske. Sie war Hunderte von Jahren alt, der älteste Star aller Zeiten ..." So drastisch beschrieb es Kenneth Anger 1975 in seinem Buch Hollywood Babylon. Judy Garland hatte fünf Ehen, drei mehr oder weniger erfolgreiche Comebacks sowie diverse Psychotherapien und Entgiftungskuren hinter sich. Sie war exakt 47 Jahre und 12 Tage alt.

But when I saw her lay down like a queen she was the happiest corpse I’ve ever seen. – Der Satz ist als Metapher durchaus geeignet, um den Zustand dessen zu fassen, was einst den stolzen Namen Gay Liberation führte und mit einem Aufstand unterprivilegierter Tunten, Transen, obdachloser schwuler Latinos sowie wehrhafter Lesben begann.

Warum das Stonewall?

Der Ort: eine Kneipe in der Christopher Street in Greenwich Village, Downtown Manhattan. Es ist keine der ganz "normalen" Lesben- und Schwulenkneipen in New York, in denen sich, wie im Julius‘, das mittelständische Homo-Publikum trifft, welches das Wochenende des Aufstands größtenteils außerhalb der Stadt verbringt, um sich die Schenkel bräunen zu lassen. Das Stonewall Inn gehört zu jenen Schmuddellokalen, die wie das Sewer (Kloake) oder das Snake Pit (Schlangengrube) illegal geführt werden – ohne Alkohollizenz, die Kneipen mit eindeutig lesbischem oder schwulem Zuschnitt noch immer häufig verwehrt wird. Wie viele andere Lesben- und Schwulenkneipen jener Zeit ist das Stonewall deshalb fest in den Händen der Mafia und hält sich mit Schmiergeldern an die Polizei über Wasser. Noch ein Jahr zuvor ist es ein ausgebrannter Heteroladen gewesen, der nun unter völliger Mißachtung aller Brandschutzbestimmungen neu herausgeputzt und mit schwarzer Farbe über den verkohlten Wänden wieder flott gemacht worden ist.

"Warum das Stonewall", fragte sich alsbald auch die altehrwürdige Mattachine Society in einem Flugblatt und gibt die Antwort, indem sie auf die "einzigartige Natur des Stonewall“; verweist: "Dieser Club war mehr als eine Tanzbar, mehr als nur ein schwuler Treffpunkt. Er bediente im wesentlichen eine Gruppe von Leuten, die an anderen Plätzen homosexueller Geselligkeit nicht erwünscht sind oder sie sich nicht leisten können ... Außer dem Goldbug und dem One Two Three hatten Transen und Tunten keinen anderen Ort als das Stonewall ... Eine zweite Gruppe war sogar noch abhängiger vom Stonewall: die sehr jungen Homosexuellen ... Man muß 18 sein, um in einer Bar einen Drink kaufen zu können, und schwules Leben kreist um Bars. Wohin gehst du, wenn du 17 oder 16 und schwul bist? Die ‘anerkannten’ Bars werden dich nicht hineinlassen, und schwule Restaurants oder die Straße sind nicht besonders gesellig. Und dann sind da noch Hunderte von jungen Homosexuellen in New York, die buchstäblich kein Zuhause haben. Die meisten von ihnen sind zwischen 16 und 25 und kamen von anderswo hierher – ohne Jobs, Geld oder Kontakte. Viele von ihnen laufen von einem unglücklichen Zuhause davon."

Für drei Dollar Eintritt können sie sich eine ganze Nacht, geschützt vor Kälte oder Hitze, im Stonewall aufhalten und müssen nicht in einem Türeingang übernachten oder damit rechnen, als Vagabunden festgenommen zu werden. Für die Straßenkinder, die Tunten, Transen, für all die, die von der bürgerlichen Kleinfamilie und der kommerziellen Homoszene gleichermaßen ausgespuckt wurden, ist das Stonewall eine Heimat, die sie mit Zähnen und Klauen gegen "die Schweine" verteidigen.

Hello there, fella

Die "Schweine", damit meinen sie die Bullen, die mit einer großangelegten Aktion, die zuvor schon das Snake Pit getroffen hat, die illegalen Spelunken vor allem von Schwarzen, Latinos und Homos ausheben wollen. Razzien gehören zwar unter der liberalen John Lindsay-Administration nicht mehr zum unmittelbaren Alltag in New York. Doch in einem am 10. Juli 1969 veröffentlichten Brief an die Lokalzeitung Village Voice, die bis dahin als einzige – aus erster Hand – über den Stonewall-Aufstand berichtet hat, schreibt Kevan Liscoe, er wisse allein von fünf Razzien in den letzten drei Wochen. Jerry Hoose, späteres Mitglied in der Gay Liberation Front, kann sich in einem Interview ca. zwei Jahre später an einen Überfall der Polizei mit 15 Mannschaftswagen auf ein "homosexuelles Rendezvous" in Hafennähe erinnern, bei dem die "Cops die Leute zu Boden schlugen".

Am Freitag, den 27. Juni, ist schließlich das Stonewall dran. Wie immer am Wochenende treffen sich dort mehrere hundert Leute. Man ehrt, man trauert um die fünf Tage zuvor verstorbene und am selben Tag zu Grabe getragene Judy Garland, deren ganzes Leben eine solche Lüge, ein Versteckspiel, eine Provokation, ein Skandal war wie das eigene. Zwei Wochen zuvor noch, am 15. Juni 1969, hat Judy Garland im Half Note Club, sozusagen gleich um die Ecke vom Stonewall Inn, ihren letzten öffentlichen Auftritt gehabt. Und plötzlich rollt ein Kommando der Polizei zu einer Razzia an. Truscott und Smith, Reporter der einen halben Block entfernten Village Voice, beschreiben die Vorgänge in ihren bald darauf erscheinenden Artikeln: "Als die Gäste, die drinnen in der Falle saßen, einer nach dem andern freigelassen wurden, begann sich eine Menge auf der Straße zu bilden ... anfangs eine festliche Versammlung, zum größten Teil zusammengesetzt aus Stonewall-Jungs, die auf ihre Freunde warteten, welche noch immer drinnen waren, oder die sehen wollten, was passierte." (Truscott) Ein Camp-Spektakel setzt ein, als bekannte Gesichter an der Tür erscheinen, posieren und den Detective mit "Hello there, fella" anzischen. "Die Stars waren in ihrem Element", schreibt Truscott über die Jungs, die ihre Handgelenke anwinkeln und Tunte spielen.

Unvermittelt fährt eine Grüne Minna vor und die Stimmung der Menge schlägt um. Drei aufgefummelte Drag Queens werden zusammen mit dem Bartender und dem Türsteher unter einem Chor von Buhrufen eingeladen. Die Drag Queens hat es erwischt, weil sie gegen ein Gesetz verstoßen, das vorschreibt, man müsse wenigstens drei Kleidungsstücke tragen, die das Geschlecht der tragenden Person eindeutig kennzeichnen. Danach tritt eine Dyke heraus und liefert sich zwischen Türangeln und Auto ein kleineres Gefecht. Chief Detective Pine befiehlt den drei Wagen und der Grünen Minna wegzufahren, bevor die Menge gewalttätig wird. "Kommt schnell wieder!", fügt er hinzu, weil er ahnt, dass die Situation aus dem Ruder laufen könnte. "Setzt sie auf dem Sechsten Revier aus und kommt gleich wieder!" In diesem Moment wird die Stimmung explosiv. "Schweine!", "Homobullen!", tönt es, während kleinere, dann größere Münzen auf die Polizisten einprasseln. Aus Münzen werden Flaschen. Die acht Polizisten, darunter zwei Frauen, und Chief Detective Pine verbarrikadieren sich in der Kneipe. Unter ihnen befindet sich auch Howard Smith, Reporter der Village Voice.

Fensterscheiben klirren, Ziegelsteine knallen gegen die Tür. Die Polizisten hören gellende Stimmen. Der Boden bebt bei jedem Stoß, bis schließlich die Tür aufkracht und Bierdosen und Flaschen hereinfliegen. Pine und seine Truppe versuchen die Tür wieder zu schließen, als der einzige uniformierte Cop unterhalb des Auges getroffen wird und blutet. Wütend rennen die Polizisten nach draußen, versuchen die Menge einzuschüchtern. Pine springt in das Gewühle, packt sich jemanden am Handgelenk und zieht ihn, nach kurzem Stolpern, unterstützt von den anderen Bullen an den Haaren in das Gebäude. Die Tür fällt wieder zu, und die wütenden Polizisten entladen ihren Zorn auf den Unglücklichen, Dave Van Ronk, der nach einigen sehr harten Schlägen ins Gesicht schließlich in Handschellen gelegt wird und fast bewusstlos niedersinkt.

Die Menge tobt weiter, mit Flaschen und Pflastersteinen. Eine aus der Verankerung gerissene Parkuhr wird als Rammbock an der Tür eingesetzt, bis diese abermals aufschmettert. Wieder fliegen Gegenstände ins Kneipeninnere. Ein Versuch, die Menge mit einem angeschlossenen Wasserschlauch unter Kontrolle zu halten, bis Verstärkung eingetroffen ist, scheitert kläglich. Der Schlauch verklemmt sich in einem Türriss und verursacht eine Lache, die für die Polizisten zur rutschigen Angelegenheit wird. Das bedrohliche Rütteln an einer Seitentür wird durch die Drohung eines Polizisten beendet, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Während die Vordertür bereits komplett offensteht, gibt jetzt eines der großen, mit Sperrholz vernagelten Fenster nach. Nun kontrollieren die Polizisten, die das Eindringen des wütenden "Mobs" fürchten, ihre Pistolen; ein Detective bewaffnet sich mit einem Schraubenschlüssel, den er wie einen Säbel am Gürtel trägt. "We’ll shoot the first motherfucker that comes through the door." Ein Arm ragt durch das Fenster und schüttet Flüssigkeit in den Raum, danach ein brennendes Streichholz. Das "Swusch" der Flammen, die sich entlang der Flüssigkeit ausbreiten, vermischt sich mit dem Hall der Sirenen: Die Polizeiverstärkung ist nun mit mehreren Wagen eingetroffen. Die Schlacht hat 45 Minuten gedauert.

Schweinshaxe im Bullenlook

Reporter Smith, der nach Eintreffen der Verstärkung die Kneipe verlässt, findet nach seiner Rückkehr die gesamte Einrichtung – Spiegel, Jukeboxes, Plattenspieler, Lautsprecher, Zigarettenautomaten, Toiletten – verwüstet vor. Die Ordnungshüter haben ganze Arbeit geleistet. Sein Kollege Truscott berichtet: "Als der letzte Polizist am Samstag morgen von der Straße war, wurde ein Schild aufgehängt, das die Wiederöffnung des Stonewall am selben Abend ankündigte. So war es." Samstag nacht kehrt die Menge zurück und wird von einer schwulen Cheerleader-Gruppe angeführt, die "Gay Power" ruft und einen Song intoniert: "We are the Stonewall girls/We wear our hair in curls/We have no underwear/We show our pubic hairs!"

Auf der Straße kommt es zu weiteren Auseinandersetzungen mit der Tactical Patrol Force (TPF), die versucht, die Menge auseinanderzutreiben. Einzelne Gruppen formieren sich neu, besetzen die Straßen und halten vorbeifahrende Autos an, um zu prüfen, ob die Insassen heterosexuell sind. Dazu Chöre: "Christopher Street belongs to the queens!" und "Liberate Christopher Street!" Eine Karosse mit Neuvermählten wird von der Seite in die Höhe gewuchtet, einzelne Polizisten werden gejagt: "Catch them! Fuck them!" Um halb vier Uhr morgens hat die TPF die Oberhand zurückgewonnen, und die Menge löst sich auf.

Am Sonntag sind die Ausschreitungen zunächst an ein Ende gelangt; geblieben ist jedoch die Stimmung, sich nicht mehr verstecken zu müssen, sondern die Straßen zurückerobert zu haben: "Stufen, Randsteine und der Park boten die Requisiten für das, was auf die Sonntags-Schwuchtelrevue hinauslief, als zurückkehrende Stars der Vorstellungen in den vergangenen Nächte vorbeischauten, um die Show für das Wochenende zu beenden", so Truscott in einem seiner Artikel.

Auch Montag und Dienstag verlaufen, mit Ausnahme kleinerer Vorfälle und Gewaltausbrüche, ruhig. Die Mattachine Newsletter verzeichnet einige von ihnen. So versucht einer der Polizisten zu provozieren, weil er den Schock, fast von den Perversen "erwischt" worden zu sein, noch nicht verdaut hat: "Start something, faggot, just start something. I’d like to break your ass wide open." Als er dies zu mehreren Dutzend Leuten gesagt hat, dreht sich ein Mann um und antwortet: "What a Freudian comment, officer!" Der Polizist holt aus ... Ein anderer steht an der Ecke der Christopher Street und schwenkt herausfordernd seinen Schlagstock. Eine Tunte schleicht sich von hinten an ihn heran, hält das Feuer an die Zündschnur eines Knallkörpers und lässt ihn zwischen seine Füßen fallen. Als der explodiert, macht der Polizist einen Sprung und landet unsanft. In einem sich abzeichnenden Handgemenge verliert er auch noch sein Abzeichen, das am nächsten Morgen im Washington Square Park vom Baum hängt: an einer gepökelten Schweinshaxe befestigt.

Als am Mittwoch die Reportage von Smith und Truscott in der Village Voice erscheint, kommt es in der Nacht zum Showdown. Die Tactical Patrol Force ist bereit, in dem bis dahin schlimmsten Gefecht zwischen Polizisten und Straßenkämpfern bis zum äußersten zu gehen. Die Mattachine Newsletter New York berichtet: "Auf einmal sah die 7th Avenue von der Christopher bis zur West 10th wie ein Schlachtfeld in Vietnam aus. Junge Leute, viele von ihnen Tunten, lagen auf dem Bürgersteig, bluteten am Kopf, im Gesicht, Mund und sogar aus den Augen. Andere kümmerten sich um gequetschte und oft blutende Arme, Beine, Rücken und Hälse". Die Zusammensetzung der Kämpfenden hat sich indes geändert. Die Tunten haben Verstärkung gefunden durch Black Panthers, Yippies (radikale Hippies) und jugendliche Straßengangs, die durch die Zeitungsberichte aus anderen Stadtteilen angelockt worden sind. Am Abend setzen Plünderungen ein.

Nach dem Höhepunkt der Ausschreitungen ist Mattachine Society die erste Organisation, die in Flugblättern eine Analyse versucht. Doch schon bald taucht ein kurzgefasstes Flugblatt unbekannter Herkunft auf, das den Geist der darauffolgenden Zeit besser zusammenfasst: "DO YOU THINK HOMOSEXUALS ARE REVOLTING? YOU BET YOUR SWEET ASS WE ARE/We’re going to make a place for ourselves in the revolutionary movement. We challenge the myths that are screwing up this society. MEETING: Thursday, July 24, 6:30 PM."