Zweimal
"Ich" auf fünf Wörter
In Michaela Lindners Autobiographie überwuchern Selbstdarstellung
und Selbstmitleid gnadenlos Analyse und Abstraktion. Von
Udo Badelt
Vor zwei Jahren wurde dem kleinen Quellendorf in Sachsen-Anhalt die zweifelhafte
Ehre zuteil, Synonym zu werden für die Verkümmerung des Geistes
auf dem Lande. Der Quellendorfer Bevölkerung gelang es in wenigen Monaten,
auch den letzten Träumer und Lobpreiser des schönen Provinzlebens
schnell und sauber von seinen Illusionen zu befreien. Das Besondere: Der Zorn
der Dorfgemeinschaft richtete sich nicht gegen ausländische Zuwanderer
oder Asylanten, sondern gegen den eigenen Bürgermeister. Norbert Lindner
hatte schon seit langem gewußt, daß er eine Frau im Körper
eines Mannes war. Als er damit nicht länger hinterm Berg hielt, auch
in Quellendorf Frauenkleidung trug und sich "Michaela" nannte, konnten
die unreflektierten Zuckungen gegen alles Fremde von der Mehrheit der Dorfbewohner
nicht länger kontrolliert werden: Mit 813 zu 235 Stimmen wurde Michaela
Lindner im November 1998 abgewählt. Das Medieninteresse war enorm: Selbst
aus Japan waren Fernsehteams angereist, um aus Quellendorf zu berichten.
Michaela
Lindner, für die der Verlust des Bürgermeisterpostens und die Trennung
von Ehefrau und Kindern das Ende ihrer bisherigen Existenz bedeutete, ging
nach Berlin und begann dort ein neues Leben. Im Sommer 1999 ließ sie
in einer Potsdamer Klinik die Geschlechtsumwandlung vornehmen; im September
2000 schloß sie eine Weiterbildung zur internationalen Betriebswirtin
ab. Für die PDS sitzt sie in der Bezirksverordnetenversammlung des Berliner
Fusionsbezirks Kreuzberg/Friedrichshain. Die bedeutendste Konsequenz der Quellendorfer
Ereignisse war jedoch: Michaela Lindner wurde zum Medienstar. Interviews,
Talkshows und regelmäßige Fernsehbeobachtung für eine Langzeitdokumentation
des WDR waren jetzt selbstverständlicher Alltag für sie.
Seit
der Bürgermeisteraffäre war sie nicht einfach nur eine transidente
Frau, sondern eine prominente transidente Frau. Michaela Lindner hatte Blut
geleckt. Jetzt kann sie vom schönen Showbiz nicht mehr lassen und versucht
eifrig, vom vergänglichen Ruhm möglichst viel zu retten dazu
gehört natürlich die Veröffentlichung einer Autobiographie.
Mit Ich bin wer ich bin bietet sie ihr gesamtes Leben schonungslos der lüsternen
Öffentlichkeit dar. Bei allem Respekt vor den Schwierigkeiten, die Frau
Lindner in den vergangenen Jahren hat durchstehen müssen: Die Geilheit
der Medien hat sie geil auf die Medien gemacht. Das hat weder ihrer politischen
Arbeit noch ihrem Buch gutgetan.
Das
berechtigte Interesse des Lesers an dem Stoff Leben und Leiden einer
transidenten Frau auf dem Lande wird durch Lindners emotionale Sprache
bald frustriert. Sämtliche Ereignisse bezieht sie ständig nur auf
sich selbst, zu einer tiefergehenden kritischen Analyse der Situation, die
von der eigenen Person abstrahieren, den Blick auf die gesellschaftlichen
Bedingungen ihrer Lage richten und Vergleiche ziehen würde, scheint sie
nicht fähig. Wenn sie nach ihrer Abwahl Quellendorf erneut besucht und
schreibt: "Ich hatte gewonnen. Ich konnte den Dorfbewohnern in die Augen
sehen, sie mir nicht", dann mag das zwar für Frau Lindner sehr schön
sein. Die häßliche Fratze der Xenophobie bleibt aber bestehen,
ob Frau Lindner sich gut fühlt oder nicht. Insofern ist der Titel, der
gleich zweimal "Ich" auf fünf Wörter enthält, durchaus
gut gewählt.
Dies
ist kein politisches Buch und will es auch nicht sein. Es mag als Ratgeber
nach Art der Carnegie-Bestseller für andere transidente Menschen dienen,
aber auch dies nur schlecht. Denn diejenigen, die zwar transident sind, an
Ruhm und Scheinwerferlicht aber kein Interesse haben, werden damit nicht viel
anfangen können. Als Ratgeber taugt es aber auch deshalb nicht, weil
Lindner mit der Wahl der komplizierten Form den Zugang zu ihrem eigentlich
simplen Buch unnötig erschwert hat. Es besteht aus dreißig fiktiven
Briefen, die die Verfasserin zwischen Juli 1998 und Januar 2000 an Verwandte
und Freunde schreibt und in denen sie vom Standort der Gegenwart aus jeweils
einen anderen Abschnitt aus ihrem Leben erzählt. Der Klarheit dient das
nicht. Ständig ist der Leser gezwungen, zwischen dem Zeitpunkt der Abfassung
des Briefes und dem berichteten Zeitraum hin- und herzuspringen. Zudem werden
auf diese Weise die Ereignisse der letzten zwei Jahre doppelt erzählt,
was die Verwirrung noch vergrößert. Was aber am meisten stört:
Erfundene Briefe müssen wenigstens glaubhaft wirken. Wenn Lindner an
ihre Eltern (!) schreibt: "Eine große Veränderung ergab sich
noch während der Schulzeit, und zwar ein weiterer Umzug im Herbst 1973.
Diesmal verließen wir das Stadtzentrum und zogen in eine Siedlung an
den Stadtrand von Görlitz", dann ist das einfach lächerlich,
denn allzu offensichtlich ist dieser Brief nicht an die Eltern gerichtet
denen diese Tatsachen wohl bekannt sein dürften , sondern an den
Leser. Der Wunsch nach neuen Darstellungsformen endet in Peinlichkeit.
Verlag
und Lektorin kann man vermutlich nicht vorwerfen, daß sie sich den Marktgesetzen
beugen und mit einem Schnellschuß herauskommen, bevor es ein anderer
tut. Aber ein paar Jahre Abstand hätten sich auf den Gehalt des Buches
sicher positiv ausgewirkt. "Ich bin wer ich bin" macht im besten
Falle, wie Sophie Neuberg in Hinnerk schreibt, "den Eindruck eines Tagebuches,
das hoffentlich der Autorin geholfen hat, ihre Gedanken zu ordnen". Im
schlimmsten Fall ist es nichts weiter als eine Sprosse auf der Karriereleiter
eines TV-Stars. Zur Gewinnung von Erkenntnissen, die über die persönliche
Verfaßtheit der Frau Lindner hinausgehen, ist es wertlos.
Michaela Lindner: Ich bin, wer ich bin. Ein öffentliches Leben als Mann und als Frau. Eichborn Verlag 2001, 346 Seiten, 36,00 DM