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Sabotageroman der Wende


Es gibt das epochale Werk, nach dem das bürgerliche Feuilleton seit Jahren schreit. Verfasst hat es ein schwuler Kommunist. Von Udo Badelt

Berlin ist eine Insel. Wie zufällig hingestreut liegt es da in der Weite der norddeutschen Tiefebene, fernab der westeuropäischen Zentren und umgeben von einer melancholischen Landschaft, die sich aus einem Zusammenspiel von Himmel, Wolken, Seen, kargem Licht und stummer Weite bildet. Niemanden würde es in die märkische Provinz ziehen, wäre nicht zufällig die größte deutschsprachige Stadt ausgerechnet in dieser gottverlassenen Gegend emporgewachsen. Während der vierzig Westberliner Jahre trat der Inselcharakter natürlich besonders drastisch hervor; aber in der Fixierung auf die "real existierende" Mauer wird gern übersehen, dass die Stadt schon vorher, und auch heute wieder, eine Insel war und bleibt: Von nichts umgeben als scheinbar unendlichem Land.

Mit nur einem Unterschied: Die kulturelle und intellektuelle Potenz der Vorkriegszeit ist dahin; nach der gerechten Zertrümmerung und anschließenden Selbstverstümmelung ist heute nur mehr ein schwacher Schatten der ehemaligen Metropole vorhanden, der mühsam von außen aufgepumpt wird und im Zeichen einer schrankenlosen Globalisierung auch noch die letzten Reste des Andersseins verliert. Man wähnt sich in einer neuen Gründerzeit und wird doch nie mehr das einholen, was man zerstört hat.

Ronald M. Schernikau hat sich von solch unerfreulichen Geschichten nicht die Freude am Leben verderben lassen. Bei ihm klingt das so: auf der insel muss irgendetwas grauenhaftes vorgefallen sein. kein einziger Gott in den letzten vielen jahren! bestimmt ist die insel, bisher berühmt für ihre produktion an außergewöhnlichen personen also an halbgöttern also an göttern, bestimmt ist sie total ausgestorben! So steht es in seinem nachgelassenen Roman "legende", einem Monumentalwerk von über 800 Seiten, das im Frühjahr, über acht Jahre nach dem Tod des Autors, endlich veröffentlicht werden konnte. Hier wird die Geschichte der "Insel inmitten des Landes" auf eine andere Weise erzählt.

Der Legende zufolge erhält die Insel Besuch von vier Göttern: fifi, kafau, stino und tete. Die Götter waren früher einmal bedeutende Persönlichkeiten, nämlich Ulrike Meinhof, Therese Giehse, Max Reimann und Klaus Mann. Jetzt sind sie tot und also Götter und kommen hinab auf die Insel, um den dort lebenden Menschen das Glück, das ist der Kommunismus, zu bringen. Die Götter sind schüchtern und haben sich das Staunen bewahrt; ihre Taten und Handlungen bilden das Handlungsgerüst für ein Berlingemälde epischen Ausmaßes, angesiedelt in den heroischen Monaten der deutschen Wiedergeburt und des Untergangs des Staates DDR.

"legende" könnte, wenn man so will, Schernikaus Hauptwerk oder Vermächtnis genannt werden. Als klar war, dass er nur noch kurze Zeit zu leben haben würde, arbeitete er wochen- und monatelang wie ein Besessener, um den Roman fertigzustellen. Tatsächlich starb er zwei Wochen nach der Vollendung am 20. Oktober 1991 an AIDS. Wieder einmal hatte die Krankheit einen schwulen Künstler dahingerafft, einen umtriebigen und kreativen Menschen, dessen Ausspruch "Ich bin die Milva der deutschen Literatur" nicht nur seine Leidenschaft für Schlagerlieder verriet, sondern auch seine Entschlossenheit zur Selbstdarstellung und -inszenierung. Neben seiner Existenz als Schriftsteller und Schwuler führte Schernikau aber mindestens noch ein weiteres Leben als Kommunist. In Magdeburg, also in der DDR, war er 1960 geboren worden, und sie hat ihn nie losgelassen: selbst dann nicht, als er mit seiner Mutter Ellen Schernikau ab 1966 in der BRD lebte. Obwohl er in Niedersachsen 1980 die Kleinstadtnovelle veröffentlicht und sich damit den Status eines hoffnungsvollen Nachwuchsautors erschrieben hatte, zog es ihn in sein Geburtsland zurück, und so ging er Mitte der achtziger Jahre nach Leipzig, um am dortigen Institut für Literatur "Johannes R. Becher" zu studieren. Schlagzeilen machte er 1989, als alle zum Fressen in den Westen rannten und er im Gegenteil die Staatsbürgerschaft der DDR annahm. Die Vereinigungsprozesse dieser Jahre stießen bei ihm auf erbitterte Kritik; während eines Kongresses von DDR-Schriftstellern verkündete er: "Meine Damen und Herren, sie wissen noch nichts von dem Maß an Unterwerfung, die der Westen jedem einzelnen seiner Bewohner abverlangt."

In "legende" zog Schernikau alle Register seines literarischen Könnens. Das Buch folgt formal dem Muster der Bibel: Es besteht aus insgesamt elf Teilen, die wiederum aus mehreren Büchern zusammengesetzt sind. Innerhalb dieser Bücher unterteilen Überschriften die einzelnen Absätze; nahezu jeder Satz der "legende" trägt seine eigene Nummer. Bevölkert wird das Werk von einer ebenfalls biblisch anmutenden Personenvielfalt. Aber diese Äußerlichkeiten sind natürlich nur dazu da, um von ihrem Inhalt sogleich wieder destruiert zu werden. Denn "legende" ist eine Komposition aus unterschiedlichsten Textsorten und Gattungen. In den roten Faden des Götterbesuchs eingewebt sind zahlreiche kürzere und längere Einlagen, Monologe und Texte in Dramenform, Reflexionen über den Kommunismus oder über die Gedichtform des Sonetts, ein Filmmanuskript, Erzählungen und Märchen, Witze und Gedichte. Die Mutter des Autors erzählt in Gestalt der Figur Irene Binz die Geschichte ihrer Flucht aus der DDR in gebundenen Versen, und auch die Lebensgeschichte des Autors selber, der hier als der "Neffe von Ulla" auftritt, fließt immer wieder in die Handlung ein. Der Leser ist unablässig versucht, Vorbilder dieses Schreibens bei den Romantikern zu suchen oder sogar im "Ulysses" von James Joyce, dessen gewaltige Sprachpotenz in Schernikaus Roman widerhallt.

Dennoch hat natürlich jeder Autor zuerst einmal Recht auf Kritik des jeweils Originären seiner Kunst. Der Roman hat, wie auch Ellen Schernikau in ihren Lesungen zustimmt, seine ermüdenden Längen. Aber im Ganzen ist er durchtränkt von wunderbaren Überlegungen und Formulierungen – wie der Anthologie "Das Hohelied des Pförtners", der das folgende Gedicht "schlaf" entnommen ist: müde zu sein zusammen/schlafen sich bewegen im schlaf/wissen wenn er weg ist morgen/werde ich krank die träume//nach dem andren greifen er ist da.

Bemerkenswert ist die Geschichte der Drucklegung von "legende". Nachdem sich der Verlag rosa Winkel beim hinterbliebenen Lebensgefährten Ronald M. Schernikaus vergeblich um die Rechte an "legende" bemüht hatte, wäre das Manuskript ohne die Ausdauer seiner Mutter wohl nicht mehr verlegt worden. Die ganzen neunziger Jahre arbeitete sie daran, dass das Spätwerk ihres Sohnes nicht dem Vergessen anheimfällt. Erst nachdem 500 sichere Vorbestellungen zusammengekommen waren, wagte der kleine Dresdener Verlag ddp goldenbogen schließlich den Schritt und legte das Riesenbuch auf. Die Kampagne zur Gewinnung von Subskribenten wurde unterstützt durch zahlreiche Künstlern, Intellektuelle und Publizisten wie Elfriede Jelinek, Peter Hacks – mit dem Schernikau lange Zeit in enger Verbindung stand; ihr Briefwechsel erschien im Konkret Literatur Verlag – und Elmar Kraushaar. So liegt nun endlich der Epocheroman über die deutsche Wiedervereinigung vor, nach dem das bürgerliche Feuilleton seit Jahren schreit; allerdings hat Schernikau, so Hermann L. Gremliza, "diesen Roman nicht geschrieben, sondern sabotiert."


Ronald M. Schernikau: legende. Roman, ddp Goldenbogen, Dresden 2000. 845 S., 69 DM