Körperbau,
Charakter und Sexualität
Biologistische
Deutungsmuster menschlichen Sozialverhaltens sind nach wie vor gang und gäbe.
Ein Vorläufer dessen, was sich heute im Bereich der Genetik abspielt,
hieß Anfang des 20. Jahrhunderts Körperbaulehre und
führte geradewegs zum Konzept des Herrenmenschen. Über
ihren Erfinder Ernst Kretschmer schreibt Florian Mildenberger
Wer schon einmal als Schwuler von einem Truppenarzt, einem Psychiater oder
nur einem älteren Allgemeinmediziner untersucht wurde, kann sich eventuell
daran erinnern, dass die Herren Doktoren einen besonderen Wert auf den Körperbau
legten. Bei hochgewachsenen, schlanken Männern hieß es natürlich,
ganz klar, bei korpulenten, eher untersetzten Herrschaften hingegen
kamen gewisse Zweifel seitens der Mediziner auf. Woher kommt nun diese Überlegung,
man könne am Körperbau die Sexualität eines Mannes erkennen?
Die Idee hierzu stammt vornehmlich von Ernst Kretschmer (1888-1964), einem
Professor für Psychiatrie in Marburg. Er entwickelte zwischen 1915 und
1921 eine Differentialdiagnose zwischen Schizophrenie und manischer Depressivität.
Diese orientierte sich am Körperbau der Patienten. Depressivität
sei die Krankheit der gutmütigen, geselligen, mit reichlich
Körperbehaarung versehenen Pykniker, während die schlanken, unbehaarten,
hochgewachsenen Astheniker/Leptosome eine Prädisposition zur Schizophrenie
aufwiesen. Als weitere Körperbautypen nannte Kretschmer die muskulösen
Athletiker, die ab 1933 unter der Rubrik Herrenmenschen rangierten
und die nicht einzuordnenden Dysplastiker. Kretschmers Überlegungen setzten
sich rasch in der europäischen (und japanischen) Psychiatrie durch, obwohl
es Antagonisten (z.B. Kurt Kolle) immer wieder gelang, zahlreiche Gegenbeispiele
anzuführen. Doch die Körperbaulehre entsprach dem Zeitgeist: Rassistisch
nutzbar, idiotensicher und billig.
Obwohl
er es nach 1945 selbst eifrig bestritt, verfocht Kretschmer frühzeitig
die Idee einer Ausweitung der Körperbaulehre auf andere körperliche
und seelische Gebrechen, wobei in seinen Augen diese stets gemeinsam auftraten.
Eingeladen von Magnus Hirschfeld, durfte Kretschmer 1923 seine Thesen zur
Affinität von asthenischem Körperbau (und damit: Schizophrenie)
und Homosexualität ausbreiten. Hierzu hatte er bereits frühzeitig
bemerkt: Wir finden unter ihnen (den Schizophrenen) und ihren Angehörigen
öfters homosexuelle Neigungen, ferner, auch ohne stärkeren sexuellen
Antrieb, einen konträrsexuellen Habitus des Gefühlslebens, Mannweiber
und weibische Männer. (Kretschmer: Körperbau und Charakter,
S. 94).
Zeitweise
schwärmte Kretschmer zudem für den Gedanken einer homosexuellen
Keimdrüse, wie dies Eugen Steinach in Wien behauptete, oder für
die fragwürdigen Studien Arthur Weils. Letzterer hatte einen stringenten
Zusammenhang zwischen Hochwüchsigkeit und Homosexualität behauptet.
Offenbar war weder Kretschmer noch Weil aufgefallen, dass zum Beispiel Magnus
Hirschfeld eher als Pykniker denn Astheniker anzusehen war. In den folgenden
Jahren tat sich Kretschmer selbst auf dem Gebiet der Homosexuellenforschung
nicht weiter hervor, seine Lehre jedoch wurde popularisiert und seitens der
Kriminalbiologie eifrig verwendet. Kretschmer behauptete nach 1945 hiergegen
eingetreten zu sein, konnte aber keine schriftlichen Belege beibringen. Seine
weitere Arbeit war nicht dazu angetan, seine Unschuldsbeteuerungen zu bekräftigen.
Er gründete 1951 die Kriminalbiologische Gesellschaft in der Bundesrepublik
mit und pries seine Körperbaulehre als Allheilmittel für die Verbrechensbekämpfung.
In der neuen alten Kriminalbiologie fanden sich im übrigen all diejenigen
Herren wieder, die im Dritten Reich Homosexuelle reihenweise gemäß
des Körperbaus analysiert und zur freiwilligen Entmannung
abgegeben hatten.
Während
der Beurteilungen war es zu bisweilen bizarren Szenen gekommen. Wehrmachtspsychiater
beurteilten mehrfach als homosexuell aufgefallene Soldaten als verführte
Normalempfindende, sobald sie über ausuferndes Brusthaar und ein
breites Becken verfügten. Umgekehrt jedoch wurde selbst die harmloseste
wechselseitige Masturbation brachial bestraft, wenn die Beteiligten eventuell
hochgewachsen und schlank waren und somit dem verklärten Herrenmenschentypus
durchaus nahekamen. Die Reichsführung der Hitlerjugend gab ein eigenes
Warnbuch heraus, in dem die homosexuellen Triebtäter
allesamt dem Kretschmerschen Deutungsmuster entsprungen waren. Die Kriminalbiologen,
allen voran die treuesten Schüler Kretschmers in Graz, mussten alsbald
jedoch feststellen, dass die Lehre aus Marburg ihre Tücken aufwies. Während
zum Beispiel Ernst Seelig (Professor in Graz, Leiter der Kriminalbiologie
im Reichsgau Steiermark) in seinen Publikationen die Kretschmersche Lehre
lobte, dürfte er im alltäglichen Berufsleben wenig von ihr erbaut
gewesen sein. Denn die im Kriminologischen Institut in Graz erhalten gebliebenen
Akten weisen die angeblichen Verführer und Sittlichkeitsverbrecher
durchweg als Pykniker oder Dysplastiker aus. Was die Kriminalbiologen nicht
davon abhielt, sie als typische Homosexuelle einzuordnen. Nicht
unerwähnt soll bleiben, daß Kretschmers Lehre zu dieser Zeit auch
die angelsächsische Psychiatrie dominierte, so daß 1945 der Großmeister
der Körperbaulehre alsbald wieder unterrichten durfte was in England
gut war, konnte in Deutschland doch nicht verbrecherisch sein! Und die treuen
Schüler des Meisters aus Marburg profitierten durch seine Persilscheine.
Ungehindert durfte wieder ge-forscht werden, alsbald formierten sich die alten
Seilschaften neu. Homosexuelle Triebtäter jeder Art wurden
gemäß den alten Fragebögen weiter behandelt. Zwar beschlichen
zahlreiche Psychiater im Laufe der 1950er Jahre massive Zweifel an der Gültigkeit
der Kretschmerschen Lehre. Doch hinsichtlich der Homosexuellen erschienen
sogar noch scheinbar bestätigende Studien aus berufener Feder.
Willhardt S. Schlegel, einst Assistent unter dem Lehrmeister Mengeles, Othmar
von Verschuer, stellte eigene Studien an. Er vermaß zahlreiche männliche
Becken, wobei er sich in seinem großen Bekanntenkreis bediente. In seiner
hagiographischen Autobiographie Rolf beehrt er den Leser auch
noch mit hübschen Details und Photos aus der psychiatrischen Geisterbahn:
So stand er da, ein bis zwei Meter vor Rolf, fragte: Was willst
du? Rolf kurz: Dich!. Der junge Mann spürte, dass Rolf
ihn so begehrte, wie er selbst seine Frau und schon manch andere Frau. Sie
legten sich. Ebenso wie seinerzeit beim Arbeitsdienst sprach Rolf sofort auf
diesen jungen Mann an und war beim Liebesspiel voll da, weil der so ganz seinem
Typ entsprach. Rolfs Lippen glitten zärtlich über den unbekleideten
Körper, die breite, muskulöse Brust, den straffen Bauch bis zu dem
phänomenalen Glied. (Schlegel: Rolf, S. 294). So herzerfrischend
kann deutsche Wissenschaft sein.
Der
greise Kretschmer zollte Schlegel noch Respekt (für die Körperbaustudien,
nicht den Sex mit Abhängigen bzw. Patienten), doch der Niedergang der
Körperbaulehre ließ sich auch durch pedantische Anusvermessungen
(unter massivem Körpereinsatz des unermüdlichen Schlegel) nicht
aufhalten. 1964-66 widerlegte der damals in Berlin (heute München) tätige
Psychiater Detlev v. Zerssen die Kretschmersche Lehre als Hirngespinst. Ihre
Ausdeutungen jenseits von Schizophrenie und Depressivität strafte Zerssen
mit Verachtung. Schelmisch merkte er an, Kretschmer habe bei seiner Körperbaulehre
wohl den Gegentypus zum Athletiker, den Intersexuellen (oder femininen
Typus) übersehen. Woran dies wohl liege? Hierauf fanden weder die Kriminalbiologen
noch bezeichnenderweise Schlegel eine Antwort. Hatte Kretschmer vielleicht
irgendwann die Unsinnigkeit seiner eigenen Anschauungen eingesehen? Selbst
wenn, so entschuldigt dies rein gar nichts. Dann hatte er tatenlos dem Missbrauch
zugesehen und den Tätern hinterher in vollem Wissen um ihre Verbrechen
durch Persilscheine geholfen.
Die deutsche Medizin blieb sich im übrigen treu. So, wie man hinsichtlich
der Bedeutung beziehungsweise Bedeutungslosigkeit der Masturbation der übrigen
europäischen Forschung hundert Jahre hinterher gehinkt war, so hielt
sich auch der Geist Kretschmers noch Jahrzehnte. In den Aufnahmebögen
der Bundeswehr und des österreichischen Bundesheeres, nebenbei gesagt,
bis heute. Was früher Recht war, kann doch heute nicht Unrecht sein
oder? Auch die Erfassungsbögen mancher deutscher Landespolizei erwecken
den Eindruck, Kretschmer habe das ewige Leben. Idiotensichere Methoden sind
eben bis heute gefragt.