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Medizinische Intervention als Folter


Der folgende, redaktionell gekürzte Vortrag wurde am 30.6.2000 auf dem Kongreß der european federation of sexology (efs) in Berlin gehalten – als zweiter Teil eines Kolloquiums zum Thema "Intersexualität", der vom ersten Teil durch eine Pause abgetrennt wurde. In dieser Pause entfernten sich die maßgeblichen Experten aus dem Bereich der Sexualmedizin. Denn es äußerte sich jemand, der von ihrer ärztlichen Praxis einmal "betroffen" war. Ein biographischer Rückblick von Michel Reiter

Wärst Du lieber ein Junge geworden", wird das Kind von einer Psychologin gefragt. "Nein", antwortete es, "dann müßte ich tun, was die Jungen tun müssen und als Mädchen muß ich tun, was man von Mädchen erwartet." Was will uns diese Antwort sagen? Nichts, außer daß dieses Kind gelernt hat, wie man richtig zu antworten hat, um sich zusätzlichen Ärger zu ersparen. In die medizinischen Akten wird der Befund eingehen: "Frisches, schlankes Mädchen, das im Alter von 11 Jahren jetzt genau die durchschnittliche Größe und das durchschnittliche Gewicht aufweist." Gut gelungenes Frischfleisch, zudem jenseits aller Erwartungen belastbar, denn Hochleistungssport, 17 operative Eingriffe, Medikation mit Dexamethason, hunderte gynäkologische Untersuchungen und Blutabnahmen, Handröntgen- und Genitalnahaufnahmen sowie permanente psychologische Kontrollen müssen wirklich überlebt werden. Was aber sagt uns diese Quantität der Eingriffe, die einzig dem offiziellen Ziel einer heterosexuellen Funktionsfähigkeit und der Idee einer vereindeutigten Geschlechtsidentität geschuldet sind? Nichts, außer einer Anleitung, wie man Menschen psychisch brechen kann und Menschenversuche diskret formuliert.

Der Mensch, von dem hier die Rede ist, steht heute vor Ihnen. Nach 14 Jahren Verzögerung, analog der Dauer jener sogenannten Behandlungen, hat er gelernt, sich zu artikulieren. Die medizinischen Texte sind bekannt und ihr Inhalt ist indiskutabel, da ein entmenschlichter, pathologischer Blick per se keine Erkenntnis zuläßt. Das Bundesministerium für Gesundheit sagt es deutlich: In den 60er Jahren wurde versucht, ein körperliches Phänomen in den Griff zu bekommen. Dieses Vorhaben aber ist nicht gelungen, denn Brachialgewalt, die bereits in frühen Jahren beginnt, Geschlechterkonfusion der Eltern und fehlgeleitete Medikation können nur zum Gegenteil des Angestrebten führen. Heino Mayer-Bahlburg irrt gewaltig, wenn er konstatiert: "Will man die Risiken späterer Geschlechtsanpassungen minimieren [...], sind Frühdiagnose und eine frühzeitige chirurgische Korrektur der äußeren Genitalien [...] auch weiterhin wichtig." (Mayer-Bahlburg et al. 1996: 330).

Selbstredend wird der behandelnde Arzt kritische Auskünfte von seinen Probanden nicht erhalten, so daß das Märchen funktionierender Eingriffe aufrecht erhalten bleibt. Menschen wie ich stehen jedoch auch nicht mehr für vorgeblich notwendige "follow-ups" zur Verfügung. Ihre Patientenkarrieren sind längst beendet und eine personenstandsrechtliche Eintragung des 'Zwitters' (international vermutlich 'intersexuell') in die Ausweispapiere ist in Bearbeitung.

Schadensersatzansprüche in Millionenhöhe werden von verschiedener Seite folgen und es ist leicht, Parallelen zum nationalsozialistischen Vorhaben der Judenvernichtung zu ziehen, denn auch dort ging es niemals um die Menschen als solche, sondern um den Ordnungserhalt einer sozialtechnokratisch motivierten Phantasie eines Gartens, aus dem alles Unkraut entfernt werden muß. Zygmunt Bauman schreibt zur Phantasie über Juden: "Die Juden erschienen als heimtückische, destruktive Kraft, als Urheber von Chaos und Unruhe, als klebrige Substanz, die die Grenzlinie zwischen dem, was es zu scheiden galt, verschmierte, die die hierarchische Stufenleiter schlüpfrig machte, Festes aufweichte und alles, was heilig war, in den Strudel der Profanisierung zog." (Bauman 1994: 64).

Juden mußte die selbstdefinierte Arierrasse töten, um ihrer Herr zu werden, denn ihre gesellschaftliche Position war durch den Staat bestimmt und definiert. Zwitter muß man im Zeitalter des militärisch-industriellen Komplexes mit seinem Bild einer Mensch-Maschine nicht mehr töten, da sie keine maßgebliche politische Relevanz mehr haben. Es genügt, sie unter Verwendung entmenschlichenden Bildmaterials, die wie ein Verstärker wirken sollen, für Monster und im Zuge der Aufklärung für mißgebildete Frauen und Männer zu erklären, um ihnen ihre menschliche Existenz schlicht abzusprechen und Normierungsanliegen in Heilung zu redefinieren. Es reicht, sie in hermetisch abgezirkelten Räumen zu verstümmeln, gleichermaßen körperlich wie seelisch, um ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit die Sprache auch in Zukunft zu nehmen: Man beläßt sie im Glauben eines Syndroms, feiert dies als Aufklärung und läßt sie im Rahmen moderner geschlechtlicher Spaltungsprozesse Selbsthilfegruppen gründen. Mit dieser zur Medizin komplementären 'Selbsthilfe' bleibt die den Intersexen zugewiesene Pathologie aufrecht erhalten und das Zuchtmaterial kontrollierbar. Entsprechend groß ist auch die Angst, traditionelle Objekte könnten sich selbständig machen, dem Hallo-Effekt entweichen und zu autonomen Subjekten werden. Befürchtet werden die Risiken "Dispersion, Radikalisierung der Positionen sowie Bruch mit Ärzten und Wissenschaftlern" (Garrels 1998: 209). Über Pränataldiagnostik und In-Vitro-Fertilisation wird man vermutlich schrittweise eine vollständige Elimination anstreben, so Intersexuelle als Forschungsmaterial nicht mehr ausreichend zur Verfügung stehen.

Werden Kritiken an den geschlechtlichen Assimilationsmethoden laut, wie in den USA seitens der Intersex Society of North America (ISNA) oder der AGGPG in Deutschland formuliert, versucht man diese zuerst zu Spinnern zu erklären; und nützt dies nichts, werden Übernahmeangebote an die Aktivisten getätigt, indem man ihnen eine wissenschaftliche Karriere in Aussicht stellt und sie an einer Modifikation ihrer Behandlungen beteiligt. Gleichfalls versichert man, vor allem gegenüber der Öffentlichkeit, die Eingriffe humaner zu gestalten, indem die Quantität der chirurgischen Eingriffe reduziert, ihre Qualität und eine psychotherapeutische Hilfeleistung dagegen expandiert werden. Beweise für diese Behauptungen werden nicht geliefert. Man spricht von Fehlern in der Vergangenheit und den technischen Weiterentwicklungen heute und in Zukunft. Daß es dabei ungebrochen um des Gärtners Vorstellungen geht, um viel Geld und Forschungsmaterial, um Prestige und Macht, aber niemals um den Menschen, fällt dort nicht weiter auf, wo die erwachsenen Konsumenten, namentlich die Eltern hermaphroditischer Kinder und allgemein der Geschlechterpartizipanten, an Geschlechterbildern, Glück und Normativität glauben wollen und der Staatsapparat seine von ihm kreierten sozialen Probleme an Normierungsinstanzen delegiert. Psychiatrie, Gefängnis und Krankenhaus sind die vermutlich bekanntesten Institutionen der inländischen Staatsgewalt. Ehe, Familie und Schule werden seltener als invasive Orte der Assimilation und der Aufrechthaltung einer strukturfunktionalen Ordnung benannt, gleichwohl sind sie elementar wichtig, da grundlegend innerhalb der kindlichen Entwicklung und Sozialisation.

Intersexualiät als medizinischer Begriff für sozialeliminatorische Vorhaben steht in einem weiteren Kontext als lediglich dem der Reduktion des Geschlechts auf seine vorgebliche Biologie. Die Methodik der Unterdrückung, wie sie bei Intersexen durchgeführt wird, ist im Zusammenhang historischer Pathologisierung der Frauen bekannt, in dem einer Normierung von Sexualität und der historischen Verfolgung Homosexueller, einer praktischen Deklaration iatrogener Fehlzuweisungen als Transsexualität sowie einer Entfernung der Krüppel und psychologisch Unliebsamen – um nur einige Bevölkerungskreise zu nennen, die dem Selbstbild des heterosexuellen weißen Mannes nicht entsprechen. Der gesellschaftliche Umgang mit Zwittern ist Ausdruck einer gesamtkulturell fehlgeleiteten Dialektik: Der Hermaphrodit kann nicht in Mythos, Kunst und Literatur vergöttert werden, wenn nicht auch auf den Fleisch gewordenen Zwitter als Monsterabbild verwiesen wird. Es ist daher erkenntnislos, nur eine Seite der Medaille zu betrachten und zudem ihren Rand, nämlich das medizinische Management als Verbindungsglied der Extreme zu tabuisieren.

Lese ich medizinische Literatur, erfahre ich nichts Relevantes über Hermaphroditen oder Zwitter als Menschen und ihre Verortung in der Kultur. Der Körper ist nur mehr ein Massengrab der symbolischen Codes, und er wird dergestalt bloß phallischer Tauschwert, bloßes Handelsobjekt. Keine Zone oder Körperfläche ist mehr erotisierbar.

Nicht anderes geschieht durch die medizinische Fragmentierung des Begriffs 'Geschlecht' in seine Einzelteile, nämlich Geschlechtsidentität, Geschlechterrolle, morphologisches Geschlecht (innen, außen), genetisches und chromosomales Geschlecht, hypothalaminisches Geschlecht, gonadales Geschlecht und hormonelles Geschlecht (fetal, pubertär). Gemäß des medizinischen Codes der 'Krankheit' können dort auch überall 'Störungen' auftreten und bei diagnostischer Expansion wird man weitere Differenzierungsmöglichkeiten finden. Obgleich der Arzt nicht an eine geschlechtliche Einheit glauben kann, verschweigt er dies gegenüber den Eltern und verspricht, die Essenz eines vollständigen Jungen oder Mädchen herstellen zu können. Auf das Reale und Machbare wird dort verwiesen, wo ihre Nichtexistenz, ihr potentielles Mißlingen kaschiert werden müssen.

Geschlecht ist ein gesellschaftlich zentrales Kommunikationssystem. Hierüber werden sexuelle Codes getauscht, Ressourcen verteilt, finanzielle Märkte erschlossen und anderes mehr. Sie als Teilnehmende dieses Kongresses haben von geschlechtlichen Bedeutungsmustern dezidiertere Kenntnisse als ich.

Als Mensch, der trotz (oder wegen) massiver medizinischer Interventionen immer Außenseiter war, einen Monsterstatus gut kennt, dem Haß und Ekel entgegengebracht wurden, der stets für unwert erklärt, dem Einsamkeit zum Lebensprinzip wurde und um ähnliche Biographien Anderer weiß, kann ich Ihnen hier abschließend folgendes mitteilen:

Eine Assimilation Intersexueller in eines der beiden Geschlechter funktioniert nicht. Wir werden auf eine Umverteilung der Gelder – rund eine Milliarde Mark pro Jahr in Deutschland und investiert ausschließlich in Normierungszwecke – in den Aids- und Krebssektor zu Heilungszwecken insistieren. Wir werden eine Infrastruktur, verortet außerhalb des Gesundheitssystems, für geschlechtlich ungewollte Kinder aufbauen, um ihnen und ihren Eltern einen lebenswerten Ort zu geben. Wir werden Kinderhilfsorganisationen einschalten, um geschlechtlich uneindeutige Kinder aus gewalttätigen Familien zu entfernen – wenn nötig mit Sorgerechtsentzug der Erziehungsberechtigten. Wir werden auf die Strafbarkeit der medizinischen Eingriffe zu Normierungszwecken bestehen. Wir werden Schadensersatzforderungen einreichen, um auch bereits verstümmelten Erwachsenen eine Lebensperspektive zu geben. Wir werden auf die Gleichheit vor dem Gesetz verweisen und eine andere, den postmodernen Gegebenheiten adäquate Ethik einfordern: diese entspringt der Theorie des jüdischen Philosophen Emmanuel Levinas und verpflichtet zur Hilfeleistung am Anderen, der Alterität, des Nicht-Ich. Sie verneint Anpassung, Angleichung und Spiegelung (Levinas 1989). So ist es logische Konsequenz, "dem Anderen nicht als Person [im Sinne seiner Rollenmaske] gegenüberzutreten, sondern als Antlitz." (Bauman 1995: 114).

Literatur:

Bauman, Zygmunt (1994): Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. (Modernity and the Holocaust). Hamburg.
Bauman, Zygmunt (1995): Postmoderne Ethik. (Postmodern Ethics). Hamburg.
Garrels, Lutz (1998): Das Geschlechtserleben Intersexueller im Diskurs. Z. Sexualforsch. 11, 197-211.
Levinas, Emmanuel (1989): Humanismus des anderen Menschen. (Humanisme de l'autre homme). Hamburg.
Mayer-Bahlburg, Heino et al. (1996): Gender Change from Female to Male in Classical Congenital Adrenal Hyperplasia. Hormones and Behavior 30, 319-332