"Ein
normales Leben ermöglichen"
So
lautet die bisher allgemeingültige Zielvorstellung von Medizin, Sexualwissenschaft
und Politik im Hinblick auf intersexuelle Menschen. Doch worin besteht diese
in so wohltätigem Duktus propagierte "Normalität", wer
maßt sich das Recht an, sie zu definieren und die Gewalt, sie mit Foltermethoden
herzustellen? Die von Gewalteinflüssen betroffenen Menschen haben eine
ganz andere Sicht auf diese ihr Leben prägenden Dinge. Ein Essay von
Michel Reiter
Intersexualität
Die wenigsten Menschen werden den Begriff "Intersexualität"
jemals gehört haben, manchen ist er unter "Hermaphrodit" oder
"Zwitter" bekannt. Intersexualität bezeichnet heute jenen Personenkreis,
welche mit einer atypischen körperlichen sexuellen Differenzierung geboren
wurden. Die Varianzen geschlechtlicher Ausprägungen sind weitläufig,
es kann daher in anatomischen Sinne nicht von einem "Dritten Geschlecht"
gesprochen werden. Ebenso versagt der Versuch, verbindliche Gemeinsamkeiten
für alle Intersexen zutreffend auszuführen.
Intersexualität ist ein Anfang des 20. Jahrhunderts geprägter medizinischer
Begriff. Der Umgang mit intersexuellen Menschen in dieser Kultur ist historisch
verschieden und variiert zwischen Kindstötung, einer sozialen Geschlechtswahl
bis etwa zum 18. Jahrhundert, vielfältiger medizinischer Untersuchungen
und der heute gängigen Praxis, intersexuelle Kinder ab der sechsten Lebenswoche
einem Geschlecht chirurgisch und/oder hormonell zuzuweisen. Ziel einer solchen
Zuweisung ist es, "dem intersexuellen Individuum ein normales Leben zu
ermöglichen, gleichermaßen in körperlicher und psychischer
Hinsicht wie in seinem Gesamtverhalten als Persönlichkeit." (Hecker
u.a. 1982, S.245) Wir gehen von etwa 2% intersexueller Menschen in der Gesamtbevölkerung
aus, also etwa 1,6 Millionen Menschen allein in Deutschland. (Blackless u.a.
2000) Mindestens jedes 2000. Neugeborene erfährt eine medikalisierte
Zuweisung bereits ab der Geburt.
Die medizinischen Vorgehensweisen sind staatlich sanktioniert. Auf eine Anfrage
der PDS zu "Genitalanpassungen in der Bundesrepublik Deutschland"
1996 antwortete die Bundesregierung: "Soweit in den rechtlichen Regelungen
des bundesdeutschen Rechts der Begriff des Geschlechts gebraucht
wird, ist dieser immer eindeutig den alternativen Kategorien männlich
und weiblich zugeordnet. Da die rechtlichen Regelungen nicht aussagen,
was unter diesen Begriffen zur verstehen ist, müssen diese Begriffe nicht
juristisch, sondern medizinisch-naturwissenschaftlich bestimmt werden."
Die "Wahl" eines Geschlechtes ist tatsächlich keine, da sie
sich stets auf "männlich" oder "weiblich" bezieht,
ein intersexuelles Geschlecht existiert weder in juristischem noch in sozialem
Kontext.
Wird z.B. in Vorträgen davon berichtet, welche Methoden zur Geschlechtsangleichung
verwandt werden, herrscht allgemeines Entsetzen. Gleichzeitig wurde bisher
kaum kritisch dazu Stellung genommen. Weder scheint denkbar, daß die
Geschlechter "Mann" und "Frau" nicht die einzig existenten
oder gar nur ein Konstrukt sind, noch scheint es für viele vorstellbar,
daß mit staatlicher Billigung und indirekt in dessen Auftrag seitens
der Medizin gefoltert wird sowie Menschenversuche durchgeführt werden.
Dies nur in Kürze zur Ausgangslage intersexueller Menschen; umfassendere
Informationsquellen geben die Literaturhinweise am Ende des Textes.
Gewalt
Die medizinische Zuweisung intersexueller Säuglinge, Kinder und Jugendlicher
beinhaltet je nach zugewiesenem Geschlecht und bestehenden Geschlechtsorganen
Penisaufbauplastik, Harnröhrenverlegung, Einpflanzung von Silikon-Hoden
oder Konstruktion einer Scheide, Verkürzung oder Amputation des Penis/der
Klitoris, Entfernung der Gonaden. Weiterhin werden ab Diagnosestellung geschlechtsspezifisch
hochdosierte Hormonpräparate verabreicht. Dem folgen vielfache gynäkologische
Untersuchungen, bisweilen einige hundert, sowie operationsmethoden- und zeitabhängig
noch Bougierungen (Vaginaldehnungen). Zu dieser physischen "Behandlung"
des nicht kranken Kindes kommt eine psychische, sehr rigide geschlechtsspezifische
Sozialisation hinzu: "Das Therapiekonzept schließt neben der medikamentösen
und operativen auch die psychologisch-soziale und familiär-erzieherische
Beeinflussung zu einer eindeutigen Geschlechtsentwicklung ein." (Bolkenius
u.a. 1982, S.247) Sich in der Korrektur "genitaler Abnormalitäten"
profilierende Berufssparten (vor allem Endokrinologie, Kindergynäkologie
sowie Kinderchirurgie) stellen aus Sicht der PatientInnen Kerkerorganisationen
dar, deren Methoden innerhalb des Arzt-Eltern-Patient-Gebildes jener von Sekten
sehr ähnlich sind, da mit Indoktrination und mentaler Programmierung
gearbeitet wird: "Sekten neigen dazu, totalitäre oder allumfassende
Kontrolle über das Verhalten ihrer Mitglieder auszuüben; sie sind
meist auch totalitär in ihrer Ideologie und neigen zu Fanatismus und
Extremismus in ihrer Weltanschauung." (Singer 1997, S.37) Die Profile
der hier tätigen Ärzte reichen von einem echten Glauben an eine
Heilung des nach ihrer Definition mißgebildeten Kindes über nationalsozialistisch
geprägte Glaubensbekenntnisse zur Herrenrasse bis hin zum klassischen
pädocrimen Soziopathen. Der "harte Kern" der hier tätigen
Ärzte hochdotierte Professoren in leitender Tätigkeit, Autoren
diverser Lehrbücher und damit paradigmenleitend ist den letzten
beiden Gruppen zuzuordnen.
Nicht selten finden körperliche Untersuchungen auch im häuslichen
Bereich durch die Eltern statt, da diese für den Behandlungserfolg mitverantwortlich
gezeichnet werden. Eine Behandlung endet nicht vor dem 16. Lebensjahr, Medikamente
sollen lebenslang eingenommen und zumeist halbjährige Routineuntersuchungen
an Kliniken ebenfalls lebenslang durchgeführt werden. So sind unbegrenzte
Kontrolle und Zugriff auf den Patienten gesichert. Eine Neuformulierung der
"Behandlungen" als Gewaltakte wird für Intersexuelle somit
erheblich erschwert bis verunmöglicht.
Eltern geben die Zustimmung zu den Eingriffen, jedoch ohne korrekt beraten
zu werden hinsichtlich Diagnosestellung, medizinischer Komplikation, Dauer
und Erfolgsaussichten sowie Alternativen. Hinzu kommt für ein intersexuelles
Individuum ein mindestens ebenso hohes Risiko wie im allgemeinen, auch außerklinisch
sexualisierter Gewalt ausgesetzt zu werden. Hierzu liegen keine empirischen
Daten vor, die in medikalisiertem Kontext vorgenommene Degradierung des Kindes
zum Objekt mit anhaltender Folter bietet für potentielle Täter jedoch
optimale Voraussetzungen, da klassische Opfer-Typen "produziert"
werden.
Berichtet wurden uns bisher infolge dieser Zwangsgeschlechtszuweisungen vor
allem die Diagnosen "manisch-depressiv", "posttraumatisches
Streßsyndrom" und "Borderlinesyndrom". Suizidversuche
sind eher die Regel als die Ausnahme. Da, wie zuvor angedeutet, intersexuelle
Menschen bei frühzeitiger medizinischer Diagnosestellung chronischer
physischer und psychischer Folter ausgesetzt werden und die Behandlungsmodalitäten
absolutes Stillschweigen vorsehen, müssen wir davon ausgehen, dass sich
unter jenen Menschen, welche mit MPS (Multiple-Persönlichkeits-Syndrom)
diagnostiziert wurden, auch geschlechtlich deklarierte Intersexuelle befinden.
Geschlechterfragen
Eine Adaption an eines von zwei Geschlechtern, korrelierend mit heterosexuellem
Verhalten und Begehren, wird als generelle Normalitätsfolie gehandelt
und juristisch sanktioniert. Dieses normative Modell wurde zunächst von
Lesben und Schwulen in den 70ern auf sexueller Ebene, von Transsexuellen in
den 80ern auf der Verhaltensebene (engl.: gender) und nun von Intersexuellen
auf der anatomisch-geschlechtlichen Ebene (engl.: sex) in Frage gestellt.
Hinzu kommt eine jüngere feministische Diskussion, welche zwischen dem
geschlechtlich interpretierten Körper aufgrund seiner anatomischen Merkmale
sowie eigenen Leiberfahrungen unterscheidet. Politisch und kulturell haben
sich in Deutschland vor allem Lesben und Schwule etabliert, eine Transgenderbewegung
befindet sich im Unterschied zu den USA erst im Aufbau, Intersexuelle subsumieren
sich heute zumeist unter den beiden vorgenannten Gruppen, sie haben bisher
keine von der Öffentlichkeit nennenswert zur Kenntnis genommene Stimme.
Im Laufe des Lebens kann es bei Intersexuellen zu einem mehrfachen Geschlechter-Flip-flop
kommen. Zunächst einmal ist die erste (nahezu immer seitens der Medizin
Hebamme, Arzt) vorgenommene Zuweisung niemals eine intersexuelle. Sodann
kann eine nach Geburt erstellte Diagnose zu einer Zuweisung an das jeweils
andere Geschlecht führen. Eine dritte Änderung kann sich im Laufe
der Kindheit ergeben, wenn das Geschlecht seitens Eltern (oder Ärzten,
Psychologen) erneut revidiert wird, da z.B. bei männlicher Zuweisung
die erwartete bzw. prognostizierte Penislänge nicht erreicht wird, sich
bei weiblicher Zuweisung verstärktes Klitoriswachstum in
der Pubertät einstellt oder sich das erwartete (geschlechtlich interpretierte)
Verhalten des Kindes nicht entsprechend der Zuweisung äußert. Eine
vierte Möglichkeit besteht in einer Revision der Zuweisung des erwachsenen
Intersexuellen. Dieser wird dann jedoch gerne als transsexuell
deklariert, um medizinische Fehlleistungen nicht eingestehen zu müssen.
Neben dem von Medizin und sozialem Umfeld produzierten Flip-flop kommt die
Inakzeptanz der Eltern hinzu. Denn diese wissen, daß ihr Kind kein Junge
und kein Mädchen ist, sonst hätte es ja nicht operiert werden müssen
und man hätte sich nicht mit großem Aufwand um Normalität
bemühen müssen. Diese Diskrepanz zwischen Schein und Sein, Soll
und Ist muß jedoch verdrängt werden, da der gesamte Behandlungsverlauf
ansonsten ebenso in Frage stünde wie auch die Annahme dichotomer Geschlechterbilder:
"Wenn geschlechtliche Uneindeutigkeit als natürlich akzeptiert wäre,
dann würden Ärzte auch realisieren, daß die Uneindeutigkeit
nicht korrigiert wird, weil sie das Leben des Kindes bedroht,
sondern weil sie für die Umwelt des Kindes bedrohlich ist." (Kessler
1990, S. 25, übersetzt M.R.)
Die Kerngruppe politisch aktiver intersexueller Menschen definieren sich zumeist
nicht als Männer oder Frauen, haben oftmals keine
geschlechtlich durchgehende, sondern eine Patchwork-Identität
angenommen (wie z.B. intersexuell-lesbisch-weiblich oder intersexuell-lesbisch-unausgerichtet),
haben alle geschlechtlichen Zuordnungen schlicht als für sich und kulturell
inakzeptabel abgelegt oder wechseln chamäleonartig ihre Identität.
Aus sexualpsychologischer Sicht wird davon gesprochen, dass Menschen sich
in der Kindheit in Verhalten, Denken und Fühlen vergleichen mit anderen
und das Geschlecht, zu welchem sie am besten passen, über mehrere Phasen
verteilt, annehmen (Diamond 1997). Völlig tabuisiert in diesen Diskussionen
sind jene Menschen, welche für sich keinen Vergleich finden, sich aber
aufgrund des Druckes, ein geschlechtlich-soziales Verhalten zu präsentieren,
dazu gezwungen sehen, sich irgendwie einzuordnen. Dies führt oftmals
zu einer Scheinanpassung, wir demonstrieren oftmals das, was andere von uns
erwarten; wir funktionieren (da für Intersexuelle das Verhalten
übersexuiert völlig überzogen vorgegeben wird,
bezieht sich das Funktionieren auf weit mehr als die allgemein als geschlechtlich
definierten Anforderungen wie z.B. schulische Leistungen, Intelligenz,
Sporttauglichkeit, soziales Verhalten). Auch ist fraglich, inwieweit überhaupt
ein Geschlecht angenommen werden kann, wenn die primären Erfahrungen
Folter / chronische (sexualisierte) Gewalt sind und nicht ein soziales Erleben.
Es wurde berichtet, daß bei manchen Transsexuellen MPS diagnostiziert
wurde. Eine solche Diagnose (wie auch andere psychische Auffälligkeiten)
führt zum Ausschluß von der Inanspruchnahme des Transsexuellengesetzes
(TSG), das eine geschlechtsumwandelnde Operation ermöglichen könnte.
Eine solche Praxis erschwert den Lebensweg zusätzlich zu den in außerordentlichem
Maße bevormundenden Richtlinien des TSG.
Unsichtbarkeit
Intersexuelle Menschen "outen" sich selten. Ihnen (und ihren Eltern)
wird nicht gesagt, daß zu Behandlungsbeginn uneindeutige Geschlechtsmerkmale
diagnostiziert wurden, sondern sie gelten als kranke Frauen und Männer.
Zur Zementierung erfolgt teils die Ausstellung eines Behindertenausweises.
Oftmals werden medizinische Akten
nicht ausgehändigt, sondern gelten als verlorengegangen/verbrannt/einem
Wasserschaden zum Opfer gefallen. In neuerer Zeit weigern sich auch Standesämter,
Geburtsurkunden herauszugeben, stellen statt dessen computererstellte Geburtsregisterauszüge
aus. Indizien, welche erwachsene Intersexuelle haben, sind oft nur ein genanntes
Syndrom wie Turnersyndrom, Klinefeltersyndrom, AGS, AIS, Gonadendysgenesie
etc, verstümmelte Genitalorgane sowie ein mehr oder minder diffuses Gefühl,
in geschlechtlicher Hinsicht nie "richtig" gewesen zu sein. Zudem
sieht diese Kultur kein intersexuelles Geschlecht vor; somit wird es kaum
in Betracht gezogen, liegt außerhalb des Denkbaren. Schließlich
existieren keine öffentlich agierenden Intersexgruppen, zu welchen eine
einfache und spontane Kontaktaufnahme möglich ist, es fehlt eine nennenswerte
Lobby. Dennoch gibt es einige, welche den Weg der Recherche ihrer Geschichte
gegangen sind, medizinische Fachliteratur konsultiert haben und uns persönlich
oder via Internet erreichen konnten und wollten.
Sich in irgendeiner Weise nicht in der heterosexistischen Matrix wiederzufinden,
ist nach US-amerikanischen Studien die Erfahrung von etwa 35% der Gesamtbevölkerung.
Lesbische, schwule oder bisexuelle Fragen können heute thematisiert werden,
transsexuelle oder jene zur Existenz der Kategorie "Geschlecht"
Querstehende jedoch kaum. Existierende transsexuelle Selbsthilfegruppen in
Deutschland arbeiten leider auf einem oftmals erschreckend niedrigem Niveau,
sofern die Debatte denn überhaupt über Operationstechniken hinausgeht.
Widerstand
Seit etwa fünf Jahren beginnen Intersexuelle in wachsender Anzahl, öffentlich
über das an ihnen exerzierte "perfekte Verbrechen" zu reden,
worauf verschiedene Umstände Einfluß haben: Zum einen werden autobiographische
Beschreibungen von der Fachwelt ernster genommen, in größeren Zusammenhängen
gedeutet und nicht mehr als "Einzelschicksale" interpretiert. Hinzu
kommt eine zum Teil scharfe Kritik an medizinischen Behandlungsprogrammen
von verschiedenen Seiten. Zunehmend ändert sich auch das Bild vom "passiven
Kranken" hin zum selbst agierenden (und selbstverantwortlichen) Klienten
und gilt der Status des mit Allmacht ausgestatteten Mediziners als "Halbgott
in Weiß" als obsolet. Nicht zuletzt eröffnen Geschlechterdiskussionen
eine Grundlage auch für intersexuelle Menschen. (vgl. Dreger 1998, S.
170ff) Wesentlich ist ferner, daß es in der Regel 30 bis 40 Jahre dauert,
bis die aufgezwungene Zwangsgeschlechtszuweisung zusammenbricht; Intersexen,
die sich heute äußern, wurden oft zur Etablierung der Behandlung,
beginnend in den 50er und 60er Jahren, herangezogen. Von nicht zu unterschätzender
Bedeutung sind zudem anhaltende feministische Diskussionen um sexualisierte
Gewalt. Zu rechnen ist mit dem zunehmenden Bekanntwerden des Zusammenbruchs
intersexueller Individuen, der sich heute zumeist noch in isoliertem Stillschweigen
vollzieht, und deshalb mit stärkerer öffentlicher Zurkenntnisnahme
dieser Menschengruppe.
Die Ziele organisierter Intersexen sind vielfältig: Anerkennung der Behandlung
an Intersexuellen vor Einwilligungsfähigkeit als Straftat und Menschenrechtsverletzung,
Stop der chirurgischen Eingriffe vor Einwilligungsfähigkeit des Intersexuellen,
freiwillige therapeutische Begleitung aller Familienangehörigen, extensive
Aufklärung über den diagnostischen Befund sowie die Nebenwirkungen
der Eingriffe (chirurgisch und hormonell), alternative Beratungsstellen, Änderung
der pädagogischen Lehrpläne in Schule und Medizinstudium, Hinwirkung
auf ein reformiertes Geschlechterverständnis, das Intersexuellen gleichen
Rang in Justiz und Kultur einräumt, Opferentschädigungszahlungen
zur Gewährleistung eines Lebensunterhaltes, Adoptionsvermittlung.
Auch außerhalb des medizinisch-therapeutischen und sexualwissenschaftlichen
Bereichs zeigen sich politische Entwicklungen in Richtung einer Infragestellung
des dichotomen Geschlechtermodells. Am 30. April 2000 verteilte eine Gruppierung
"Anarchistische EntgrenzerInnen Die mit dem Zwitter tanzen"
in Berlin einen Flyer, in dem mehr oder weniger willkürliche Ein- und
Ausschlußmechanismen in diversen Szenen verdeutlicht, die reale Unmöglichkeit
einer erfolgreichen Geschlechts-"Umwandlung" konstatiert und nach
der Fortsetzung des Sexismus als Akt der Herstellung zweier Geschlechter auch
in der FrauenLesben-Szene gefragt wurde. Vom 12. bis 14. Mai 2000 lud der
feministische Juristinnentag zum 26. Jahrestreffen ein. Es blieb weithin unbeachtet,
als mit Einladung eines Zwitters, der zu einer Assimilation in eines der beiden
Geschlechter nicht mehr bereit war, zum Thema "Intersexuelle, Geschlecht
und Eugenik" zu referieren, ein Traditionsbruch vollzogen wurde. Im Jahr
zuvor hatte man ihn zunächst ein- und aufgrund eines nicht näher
begründeten Vetos Wochen später wieder ausgeladen. Die Veranstalterinnen
dieses Jahres mußten sich Beschwerden und Fragen der Besucherinnen anhören,
warum denn auf ihrer Veranstaltung ein Mann spreche. Die AG war jedoch sehr
gut besetzt und stieß auf Interesse.
Am 26. Mai 2000 ereignete sich um 11.50 Uhr ein weiteres, abermals unbeachtetes
Ereignis: Ein Mensch, im Kontext der Geschlechtszuweisung in frühen Kindheitsjahren
mit einem der mit Intersexualität verknüpften Syndrome belegt, reichte
an das Standesamt seiner Geburtsstadt einen Antrag auf Änderung der Geschlechtsbezeichnung
in seinen Personalpapieren ein. Das Geschlecht solle nunmehr "Zwitter"
lauten. Mit einem Entscheid des zuständigen Amtsgerichtes wird Ende des
Jahres gerechnet. Im Falle einer Ablehnung soll bis zum Europäischen
Gerichtshof geklagt werden. Diese Nachrichten können ergänzt werden
durch diverse Pressemeldungen und Veranstaltungen rund um die Frage, ob zwei
Geschlechter als Alleingültigkeit noch aufrecht erhalten werden können
wobei der Fokus diesmal kein dekonstruktivistischer ist, sondern Intersexuelle
als Gegenevidenz und Bejahung einer Relevanz der Fragestellung in das Diskursfeld
geführt werden (und sich selbst führen).
Weiterführende Informationen unter: http://aggpg.de/
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