Ein
perfektes Verbrechen
Daß
es von Natur aus nur zwei Geschlechter gebe, ist wissenschaftlich unhaltbar.
Diese Ansicht vertrat schon vor über 90 Jahren der Gründer des WhK,
Dr. Magnus Hirschfeld, der mit seinen Studien über sexuelle Zwischenstufen
die polare Geschlechtereinteilung in Frage stellte. Doch trotz dieses Wissens
werden heute in der Tradition der NS-Medizin Menschen, die in
die Dichotomie der Geschlechter nicht passen, medizinischen Foltererfahrungen
unterworfen. Rede zum 20. Berliner CSD 1998 von Michel Reiter
Das Modell der Zweigeschlechtlichkeit, die Annahme, dass es nur zwei Geschlechter,
Mann und Frau, gäbe und diese hinsichtlich sexuellem Begehren, sozialer
Rollenmodelle und körperlicher Merkmale akkurat voneinander unterscheidbar
wären, ist erst in diesem Jahrhundert wirklich brisant geworden. Es ist
ein Jahrhundert der Verfolgung derjenigen Menschen, die nicht in diese heterosexistischen
Trennungsmodelle hineinpassen seien es Zwitter, Transgender People,
Transsexuelle, Lesben oder Schwule.
Intersexuelle, manchen auch als Zwitter oder Hermaphroditen bekannt, zwingen
den Gedanken der körperlichen Zweiteilung der Menschheit in die Knie.
Es sind Menschen, die bereits vor oder bei der Geburt oder während ihrer
Kindheit den definierten Geschlechtern 'männlich' oder 'weiblich' nicht
eindeutig zugeordnet werden können. Etwa 16.000 Intersexuelle werden
jedes Jahr geboren. Sie werden als genital fehl- und missgebildet bezeichnet,
und ohne dass diese Kinder im eigentlichen Sinne krank wären, müssen
sie umfangreiche 'Therapien' über sich ergehen lassen.
Die Therapien können bereits ab Geburt beginnen. Sie beinhalten sehr
hohe Hormondosierungen, genitale Operationen, vielfache gynäkologische
Untersuchungen und psychologische Behandlung. Ziel dieser Therapien ist es,
das Kind zwanghaft in eines der beiden Geschlechter hineinzusozialisieren,
indem ihr Körper optisch dem klischeehaften Bild einer Frau oder eines
Mannes angepasst wird. Außerdem wird dem Kind untersagt, homosexuelles
Begehren zu leben. Diese Kinder haben keine Möglichkeit, eine Einverständniserklärung
zu den Eingriffen abzugeben.
Die Folgen dieser oft 20 Jahre und länger andauernden medizinischen Interventionen
sind verheerend. Intersexuelle, die dies erlebten, sprechen von Folter, 'Familien-KZs',
Genitalverstümmelungen und Menschenversuchen. Viele sind heute in Folge
der Eingriffe tot, viele haben Suizidversuche durchgeführt, viele leben
in Psychiatrien, die Mehrheit aber wird versuchen, trotz Mehrfachtraumatisierungen
ein normales Leben zu führen. Da Intersexuelle seitens der Medizin immer
nur ein Syndrom genannt bekommen, also als kranke Frauen oder kranke Männer
gelten und zumeist keine medizinischen Unterlagen erhalten, wissen viele von
ihnen gar nicht, dass sie als Intersexuelle geboren wurden. In der Chirurgie
gilt ich zitiere -, dass es einfacher ist, ein Loch zu machen,
als eine Stange zu bauen. Infolgedessen werden etwa 90% der Intersexuellen
dem weiblichen Geschlecht zugewiesen. Viele (ehemalige) Intersexen halten
sich heute in transsexuellen, lesbischen, schwulen oder Transgenderkreisen
auf. Trotz der hohen Anzahl von etwa 1,5 bis 3 Millionen in Deutschland lebenden
Intersexuellen wissen die wenigsten Menschen, dass es uns überhaupt gibt.
Nach den Genitalverstümmelungen an afrikanischen Sklavinnen, lesbischen
und angeblich hysterischen Frauen noch zu Anfang dieses Jahrhunderts, nach
den Versuchen während des nationalsozialistischen Regimes, Schwule heterosexuell
'umzuprogrammieren', hat sich seit 50 Jahren in der Medizin der Zweig zur
Korrektur von Geschlechtsanomalien herausgebildet. Der Zwang zur geschlechtlichen
Ein(ein)deutigkeit wird durch technische Fortschritte in der Gentechnik und
Diagnostik immer mehr verschärft.
Bei Transsexuellen werden hirnorganische Störungen gesucht, die auch
auf Lesben und Schwule anwendbar wären und vorgeburtlich diagnostiziert
werden könnten. Intersexuelle können bereits heute bis zum neunten
Monat abgetrieben werden, nämlich wenn schwerwiegende Beeinträchtigungen
des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren
zu erwarten sind mit anderen Worten, wenn das künftige Kind als
nicht zumutbar gilt. Diese Tendenzen aus Medizin und Justiz stehen in scharfem
Kontrast zur angeblichen gesellschaftlichen Liberalisierung der Geschlechterverhältnisse.
Wie aus einer Antwort der Bundesregierung hervorgeht, sagen die rechtlichen
Regelungen nicht aus, was unter 'männlich' und 'weiblich' zu verstehen
ist; die Bundesregierung weiß tatsächlich nicht, was der Begriff
'Geschlecht' bedeutet, aber sie delegiert die Klärung an medizinisch-naturwissenschaftliche
Instanzen. Diese haben eine Liberalisierung der Geschlechter jedoch keinesfalls
im Sinn.
Wir sprechen von einem an Intersexuellen begangenen perfekten Verbrechen,
denn täglich werden Menschen in Kliniken ihrer Besonderheit beraubt,
von welchen gar nicht bekannt ist, dass es sie überhaupt gibt. Wir sprechen
von einem Genozid enormen Ausmaßes in allen westlichen Kulturen weltweit
- inmitten des ausgehenden 20. Jahrhunderts.
Intersexuelle fordern:
- das Recht auf körperliche Unversehrtheit für alle Menschen in
jedem Alter;
- die Abschaffung der Kategorie 'Geschlecht' in all seinen Konsequenzen;
- die Gleichberechtigung aller Existenz-, Lebens- und Beziehungsformen in
jeder Hinsicht.
Wir müssen geschlossener und massiver denn je gegen Herrschaftsverhältnisse
angehen, die uns dies verweigern. Der Umgang mit Intersexuellen geht alle
etwas an.
Kontaktadresse
Arbeitsgemeinschaft gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie
(AGGPG)
Brandtstraße 30, 28215 Bremen
email: aggpg@t-online.de
http://home.t-online.de/home/aggpg