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Individualismus, Atheismus, gelebte Dialektik


„Ich bin eigentlich nicht so sehr auf Ereignisse neugierig als auf mich selbst“ lässt André Gide eine seiner Figuren im Roman Die Verliese des Vatikan denken, und verkündet damit zugleich seine ureigenste Lebensmaxime, zu der ihn ein mühsamer Lebensweg geführt hatte. An den vor 50 Jahren verstorbenen Nobelpreisträger erinnert Götz Fabry

André Gide, der am 22. November 1869 in Paris geboren wurde und dort 81jährig am 19. Februar 1951 starb, zählt zu den bedeutendsten französischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Von reichen calvinistischen Eltern streng puritanisch erzogen, war ihm neben einer Abneigung gegen die „Sünden des Fleisches“ auch früh einen strenger Tugendbegriff eingeimpft worden. Doch die elterliche Moral kollidierte schon bald mit den sogenannten „schlechten Gewohnheiten“, die der kleine André gemeinsam mit einem Freund unter dem Schutz des Wohnzimmertisches entdeckt hatte. Der Konflikt zwischen sexuellem Begehren einerseits und protestantischer Erziehung andererseits zieht sich wie ein roter Faden durch Gides Leben und Werk. Bevor er allerdings die Ambivalenz, die Spannung zwischen Sinn und Sinnlichkeit kreativ nutzen konnte, verursachte sie ihm großes Leid. Denn die Selbstbefriedigung, die ihm zunächst noch ein vergnügliches Spiel zu sein schien, entwickelte sich bald zum zwanghaften Ritual, das nicht mehr die ersehnte Entlastung von unverstandenen Körperempfindungen brachte, sondern zu seelischer und körperlicher Erschöpfung führte.

Erst 1893 gelang es dem mittlerweile 26jährigen Gide auf einer Tunesienreise eine unverkrampftere Haltung zu seinem sexuellen Verlangen zu finden. Die Tuberkulose, an der er während der Reise erkrankt war, weckte in ihm den Lebenshunger und setzte Energien frei, die er bisher durch das Leben als Intellektueller sublimiert hatte und die ihren Niederschlag in seinen ersten, noch ganz vom französischen Symbolismus geprägten Büchern gefunden hatten. Fasziniert von der Schönheit arabischer Jungen gelang es ihm, seine homosexuelle Veranlagung zu akzeptieren und erstmals in den Armen eines anderen Lust ohne Reue zu empfinden. Geburtshelfer dieses verspäteten Coming-Out war kein geringerer als Oscar Wilde, den Gide schon aus Paris flüchtig kannte und der in Tunesien gemeinsam mit Lord Alfred Douglas („Bosie“) zufällig im gleichen Hotel abgestiegen war. Gide berichtet diese Episode rückblickend in der größten seiner autobiographischen Schriften Stirb und Werde (Si le grain ne meurt), die 1926 in ihrer endgültigen Form erschien. Dies ist im übrigen eine der wenigen Stellen im umfangreichen dichterischen Werk Gides, an der offen von Homosexualität die Rede ist, wenn man einmal von der halb wissenschaftlichen Abhandlung Corydon absieht, mit der Gide in sokratischer Dialogform die Homosexualität als natürlich und die Päderastie als gesellschaftlich wünschenswert zu rechtfertigen versuchte. Die befreiende Wirkung, die Gide empfand, als er seinen eigenen Impulsen und nicht der anerzogenen Moral folgte, machten ihn von diesem Zeitpunkt an zu einem radikalen Individualisten: „Erst jetzt fand ich endlich zu meiner eigenen Norm. Hier gab es nichts Gezwungenes, Hastiges, Zweideutiges mehr, kein Schatten fällt auf die Erinnerung, die ich mir bewahrt habe. Meine Lust war frei von Hintergedanken und brauchte keine Gewissensbisse zu fürchten.“

Nach den in der Schwüle des exotischen Nordafrika gewonnenen Einsichten auch in Frankreich zu leben stellte sich aber doch als schwieriger heraus, als das die enthusiastischen Schilderungen Gides erwarten lassen. Zwei Jahre nach der Afrikareise heiratete Gide ganz bürgerlich seine Cousine Madeleine, zu der er sich seit dem zwölften Lebensjahr besonders hingezogen fühlte. Obwohl er die Liebe zu Madeleine – der, wie er immer wieder beteuerte, größten und einzigen Liebe seines Lebens – als die wichtigste Quelle seiner künstlerischen Inspiration ansah, war das Eheleben eine Last für Gide. Sexualität bei Frauen fand er „unschicklich“ und seinen Freiheitsdrang sowie die Lust auf neue Erfahrungen konnte er nur schwer mit einer auf Dauer angelegten Partnerschaft verbinden. Zum inneren Bruch der Beziehung, die nie offiziell geschieden wurde, kam es schließlich durch Marc Allegret, Gides langjährigen Freund, den er 1918 kennengelernt hatte und mit dem er bis zu seinem Tod eng verbunden blieb. Aus Protest gegen das Verhalten ihres Ehemanns verbrannte die enttäuschte Gattin sämtliche seiner an sie gerichteten Briefe, was dieser wiederum mit der wenig einfühlsamen Äußerung kommentierte: „Ich leide, als hätte sie unser Kind getötet.“

Die Freizügigkeit und das Selbstbewußtsein, mit denen Gide in der Autobiographie über seine erotischen Abenteuer schrieb, als seien sie das Normalste auf der Welt, waren 1926, als Si le grain ne meurt in endgültigen Form erschien, ein Affront. Gide überschritt bewusst die Grenzen des „guten“, also bürgerlichen Geschmacks und markierte damit bewusst einen inneren und äußeren Einschnitt in seinem Leben. Sein öffentliches Coming-Out war mit diesem Bekenntnisbuch abgeschlossen. Was man in seinen großen literarischen Werken schon früher zwischen den Zeilen hatte lesen können und was im Grunde jeder ahnte, war jetzt mit einer Direktheit zum Ausdruck gekommen, die manche seiner Leser verschreckte.

Der biblische Titel des Buches, wörtlich übersetzt „Wenn das Korn nicht stirbt“, kennzeichnet im übrigen sehr treffend die Situation des Autors zum Zeitpunkt der Veröffentlichung. Denn die literarischen Werke, denen der spätere Literaturnobelpreisträger seinen Ruhm verdankt, stammen alle aus der Zeit vor der Autobiographie, die nachfolgenden Werke reichen weder inhaltlich noch formal an die früheren Werke heran, was aus der biographischen Entwicklung des Autors ohne weiteres verständlich ist. Denn Gide hatte den Schwerpunkt seines Wirkens aus der schöngeistigen Sphäre in die des sozialen und politischen Engagements verlagert. 1927 reiste er in den Kongo, wo ihm die Augen für die menschenverachtenden Auswüchse der französischen Kolonialherrschaft geöffnet wurden, die er in seinem im Jahr darauf erschienenen Reisebericht Voyage au Kongo anprangerte. Seine Abneigung gegen jeglichen Zwang, der die Freiheit des Individuums einschränkte, machten ihn mehr und mehr zu einem Fürsprecher aller gesellschaftlich Benachteiligten und Ausgestoßenen. So setzte er sich etwa für humane Haftbedingungen und für die Gleichberechtigung der Frauen ein. In den dreißiger Jahren wurde er zu einem engagierten Kommunisten und bereiste 1936 auf Einladung der sowjetischen Regierung die UdSSR. Im Beisein von Stalin, Molotow und anderen Würdenträgern hielt er auf dem Roten Platz in Moskau die Totenrede für Maxim Gorki. Trotz des triumphalen Empfangs, den man ihm in Moskau bereitet hatte, war Gide enttäuscht, daß der Sowjetkommunismus seinen idealen Vorstellungen so wenig entsprach, wovon sein Reisebericht Zurück aus der UdSSR, der sich im Erscheinungsjahr mehr als hunderttausendmal verkaufte, wenn auch noch sehr zurückhaltend Zeugnis ablegt. Gides ausgeprägter Individualismus vertrug sich nicht mit dem Totalitarimus Stalinscher Prägung, und so ergänzte er kurze Zeit später seinen Reisebericht durch die Schrift Retuschen zu meinem Rußlandbuch, in dem er öffentlich seinen Bruch mit dem Kommunismus erklärte.

Die eigenen schmerzlichen Erfahrungen durch eine nicht an individuellen Bedürfnissen, sondern an religiösen oder ideologischen Dogmen orientierte Erziehung ließen Gide eine lebenslange Abneigung gegen alle dem Menschen von außen aufgezwungene Gesetze entwickeln und machten ihn zum Verfechter des radikalen Individualismus. Um seine persönliche Freiheit zu gewinnen, müsse der Mensch sich entwurzeln, seine Bindungen durch Familie, Rasse, Religion und Heimat hinter sich lassen, um in sich selbst sein eigenes Gesetz zu finden. Kein Wunder, daß die Existentialisten, allen voran Jean-Paul Sartre, in Gide eine Art Vaterfigur sahen und sein lebenslanges Ringen mit den Gesetzen von Moral und Religion, das ihn schließlich zum Individualismus und Atheismus führte, als gelebte Dialektik verstanden.

André Gides literarische Werke sind außergewöhnlich vielschichtig, sehr heterogen und fast alle sind stark autobiographisch gefärbt. Dabei sind Gides eigene Erlebnisse, Gefühle und Überzeugungen häufig auf mehrere Personen verteilt, so dass es unmöglich ist, eine der fiktiven Figuren als alter ego des Autors zu identifizieren.

Auf die Spitze getrieben ist dieses Verfahren in Gides berühmtesten Buch, seinem Roman Die Falschmünzer. Kunstvoll werden hier mehrere Geschichten aus verschiedenen Perspektiven erzählt und im Verlauf des Romans immer enger miteinander verwoben. Obwohl es schwerfällt, eine Hauptfigur zu benennen, steht im Zentrum des Geschehens der Schriftsteller Edouard, dessen fiktive Tagebuchaufzeichnungen einen großen Teil des Werkes bilden. Edouard schreibt gerade einen Roman mit dem Titel Die Falschmünzer und belehrt den Leser über die damit verbundenen Schwierigkeiten. Ihm gegenübergestellt ist der snobistische Erfolgsschriftsteller Robert de Passavant, der den lifestyle des Fin de siecle verkörpert. Zwischen diese Literatengestalten findet sich das Freundespaar Bernard und Olivier, deren Erwachsenwerden einen weiteren Erzählstrang bildet. Bernard verläßt sein großbürgerliches Elternhaus, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Durch einen Zufall kommt er in den Besitz von Edouards Tagebuch, lernt diesen selbst kennen und wird sein Sekretär. Olivier, der Neffe Edouards, wird zunächst von Passavant als Sekretär angeheuert und von ihm in die elegant-falsche Welt der parfümierten literarischen Salons eingeführt. Olivier wird dieser Welt jedoch schnell überdrüssig, versucht sich das Leben zu nehmen und wird schließlich von Edouard gerettet. Gruppiert um dieses Doppelpaar pubertierenden Jugendlicher und Literaten sind noch zahlreiche andere Geschichten, z.B. die einer Kinderbande, die von Falschmünzern ausgenutzt wird, um deren Geld in Umlauf zu bringen, oder die Geschichte von Oliviers Bruder Vincent, der während eines Sanatoriumaufenthalts eine Affäre beginnt, die ihn um sein Vermögen bringt, ihn damit zur leichten Beute der verführerischen und reichen Lady Griffith werden läßt, die ihr intrigantes Spiel aber schließlich durch Vincents eigene Hand mit dem Leben bezahlen muß, was diesen wiederum um den Verstand bringt.

Die auf den ersten Blick verwirrende Vielfalt der Geschichten und Gestalten ist dank einer meisterhaften Erzähltechnik und einer strengen formalen Struktur des Romans jederzeit zu überschauen – ein brillantes und spannendes Buch, dem man seine 75 Jahre nirgends anmerkt.

Während in Die Falschmünzer zahlreiche divergente Motive, Gefühle und Ansichten anklingen, sind andere Werke in dieser Hinsicht einseitiger. Nicht selten fühlte sich Gide dann im Nachhinein gezwungen, ein literarisches Gegenstück zu verfassen, um gewissermaßen sein dichterisches Gleichgewicht wiederherzustellen. So geschehen mit der 1902 erschienenen Erzählung Der Immoralist, in der Gide viel autobiographisches Material von seiner Tunesienreise verarbeitet hat. Protagonist des Werkes ist der Archäologe Michel, der seinen Freunden in einer langen Nacht gewissermaßen eine Lebensbeichte ablegt. Er schildert, wie ihm aus seinem drögen Gelehrtendasein, ausgelöst durch seine Erkrankung an Tuberkulose, plötzlich eine kaum stillbare Lebenslust erwacht. Er geht auf Reisen, fährt nach Afrika und ergötzt sich an hübschen Jünglingskörpern. Während er sich immer besser fühlt, geht es seiner gleichfalls erkrankten Lebensgefährtin, die er ebenfalls nach Afrika schleppt, um ihr die gleiche Kur angedeihen zu lassen, immer schlechter, und schließlich stirbt sie. Michel fühlt sich schuldig, sein Egotrip im Dienste des Lustprinzips hat die Freundin zerstört, und auch er weiß schließlich mit sich selbst nichts mehr anzufangen und wendet sich ratsuchend an seine Freunde.

Obwohl Gide dieses Werk keinesfalls als Anklage gegen rücksichtslosen Egoismus verstanden wissen wollte, zeigt er damit doch die Gefahren auf, die das von ihm selbst verkündete Programm des radikalen Individualismus mit sich bringen kann. Da ihm die Botschaft des Immoralisten zu einseitig erschien, verfaßte Gide kurz darauf ein anderes Werk, das die Aussage des ersten relativieren sollte: die Erzählung Die enge Pforte. Scheitert Michel, der Immoralist, an seinem uneingeschränkten Ego, so scheitert Alissa, die Heldin dieser Erzählung, an ihrem absoluten Tugendbegriff. Obwohl sie ihren Cousin Jerome liebt, verzichtet sie auf den Vollzug dieser Liebe und läßt statt dessen der Schwester den Vortritt, weil sie davon überzeugt ist, daß durch die Tugend, auf das eigene irdische Glück zu verzichten, ihr eine höhere, absolute Glückseligkeit verheißen sei. Michel, der Immoralist, und Alissa, die Verkörperung absoluter Tugendhaftigkeit stehen somit für die moralische Extreme, zwischen denen sich auch André Gides Leben und Werk abspielten.

Von diesem Konflikt handelt auch das nach den Falschmünzern wohl bedeutendste Werk Gides, der 1914 entstandene Roman Die Verliese des Vatikan. In dieser Satire bläst Gide zum Generalangriff auf die bürgerlichen Werte, indem er eine französische Adelsfamilie und ihre Verstrickungen in religiösen Wahn, wissenschaftliche Doktrin, moralische Heuchelei und Hochstapelei zum Gegenstand einer grotesk-ironischen Handlung macht.

Eine Bande von Hochstaplern streut unter südfranzösischen Adelsfamilien das Gerücht aus, der Papst sei in Rom von den Freimaurern entführt und in der Engelsburg gefangen genommen worden. Statt dessen residiere jetzt ein falscher Papst im Vatikan, der durch entsprechende Verordnungen die katholische Kirche zugrunde richten wolle. Der um seine Privilegien fürchtende Adel spendet bereitwillig Geld für die Befreiuung des Kirchenoberhauptes, und Amedée, ein frommer Einfaltspinsel, macht sich persönlich auf den Weg nach Rom, um an der Befreiung des Papstes mitzuwirken. Dort gerät er in die Hände der Betrüger, die ihn nach allen Regeln der Kunst an der Nase herumführen und ihn für ihre Zwecke mißbrauchen. Lafcadio Wluiki, ein Bastard, der durch eine unerwartete Erbschaft plötzlich zu Geld gekommen ist, trifft in Rom zufällig auf Amedée und bringt ihn aus einer Laune heraus um. Jetzt gerät Lafcadio selbst mit der Betrügerbande in Konflikt, deren Chef sich als einer seiner ehemaligen Kumpane entpuppt.

Mit dieser kurzen Beschreibung ist das Wesen dieses Familien-, Kriminal- und Abenteuerromans nur unzureichend beschrieben. Ähnlich wie in den Falschmünzern werden verschiedene Handlungsstränge virtuos und dabei äußerst ökonomisch zusammengeführt, so daß das Buch trotz aller Komplexität leicht zu lesen und vor allem amüsant und spannend ist.

Das Echo auf diese Narrenposse war sehr geteilt. Während Marcel Proust den Roman enthusiastisch lobte, kündigte der katholische Schriftsteller Paul Claudel Gide die Freundschaft, weil er sich nicht nur in seinen religiösen Gefühlen verletzt, sondern auch persönlich verunglimpft sah: Gide hatte ein Theaterstück Claudels in satirisch verfremdeter Form in seinen Roman eingebaut. Der Katholizismus war unter den französischen Literaten der Jahrhundertwende schwer in Mode und Gide selbst hatte sich jahrelang mit dem Gedanken getragen, zum katholischen Glauben zu konvertieren. Die Verliese des Vatikans sind daher nicht nur als eine Abrechnung mit der Hörigkeit der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber Wissenschaft, Religion und verabsolutierten gesellschaftlichen Moralvorstellungen zu verstehen, sondern auch als persönlicher Befreiungsschlag Gides, der sich damit endgültig von seinen Gelüsten nach einer Konversion zum Katholizismus befreite. Die Kirche hat es ihm gedankt: Am 2. April 1952 setzte sie sein Gesamtwerk auf den Index der Verbotenen Bücher.

André Gide: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Deutsche Verlags-Anstalt (dva)
Einzelausgaben (u.a. Die Verliese des Vatikan, Die Falschmünzer, Der Immoralist) sind nach den Texten der Gesamtausgabe erschienen bei dtv.