Gewalt?
Äh, bitte nicht beim Essen
Der
Haß auf die Gewalt eine Spurensuche in Sachen Verdrängung.
Von Holger Schatz
Rechtzeitig zu den Feierlichkeiten anläßlich des 300. Jahrestages
der Krönung Friedrichs I. von Preußen vergewissert sich die
deutsche Gesellschaft jener edelmutigen Tugend, die ausländische Beobachter
seit ehedem zu spöttischen Kommentaren verleitete: Wenn Deutsche
einen Bahnsteig besetzen wollen, lösen sie zunächst eine Fahrkarte.
Was sich in diesen Wochen in der Debatte um Fischers oder Trittins militante
Vergangenheit an Absurditäten, historischen Verdrehungen, Kniefällen
vor dem staatlichen Gewaltmonopol usw. vernehmen läßt, kennt man
eigentlich zur Genüge. Man kennt die Reduktion des Gewaltbegriffs auf
die Erscheinungsformen, mit Hilfe derer stets rechte und linke Gewalt gleichgesetzt
und im Nachkriegsdeutschland der Judenmord auf die RAF projiziert wurde. Man
kennt auch die Zuschreibungen, die beispielsweise von den erbärmlichen
Selbstzeugnissen eines Joschka Fischers mit Leben erfüllt werden: narzistisch,
machistisch, autoritär ein deutscher Zwangscharakter gar. Irritierend
bei der aktuellen Hysterie scheint allein die Tatsache, daß im Vergleich
zu früheren Wellen des Distanzierungswahns zum Zeitpunkt der neueren
Debatte so gut wie gar keine linke Militanz mehr existiert, dafür aber
die politisch motivierte Gewalt seit den 90er Jahren zunehmend von rechts
ausgeht.
Immerhin gibt es auch solche Stimmen, die auf den Unterschied zwischen Gewalt
gegen Oben und Gewalt gegen Unten pochen und gleichzeitig
die Relationen zwischen dem vergleichsweise lächerlichen Faustschlag
Fischers und den zahlreichen Knüppelorgien hochgerüsteter Uniformträger
zurechtrücken. Allein, auch das nach Wahrheit und Objektivität trachtende
Aufrechnen und Vergleichen rechter und linker, polizeilicher und autonomer
Gewalt bedient sich eines Gewaltbegriffes, der von einer gewaltfreien Normalität
ausgeht.
Manchmal jedoch scheinen in den Lobreden auf die zivilisatorischen Errungenschaften
der freien, gleichen und schließlich gewaltfreien Verkehrsformen der
bürgerlichen Gesellschaft Irritationen durchzuschimmern. Denn die Lobrede
auf die Gegenwart kommt ja nicht ohne die Erzählung des dunklen Vergangenen
aus und könnte uns vielleicht daran erinnern, daß der Begriff der
Gewalt einst von jenen definiert wurde, die sie ausübten,
und daß Gewaltverzicht immer jenen abverlangt wurde, die sie erdulden
mußten. Damals, als es noch Herrscher und Beherrschte gab. Beim Erzählen
dieser Hollywood gewordenen Geschichte darf geweint werden heute, da
es keine Herrscher mehr zu geben scheint und die Menschen sich selbst beherrschen.
Heydrichs teutonische Erben als Projektionsfläche deutscher
Vergangenheitsbewältigung
Das angebliche Ende der Geschichte und damit auch das Ende der legitimen politischen
Gewalt, das die bürgerliche Gesellschaft so euphorisch ausruft, zeitigt
freilich in Deutschland eine besondere Note. Gemeint ist hier zunächst
jener spezifisch deutsche Kadavergehorsam, jene Untertanenmentalität,
die nur allzu oft ein mehr an revolutionärer Gewalt verhindert hat, wo
es nötig gewesen wäre. Gerade das liberale Feuilleton, das sich
aufgrund seiner Schelte gegen die allzu plumpe Popanz-Inszenierung seitens
der parlamentarischen Opposition über den Dingen stehend wähnt,
übertrifft das konservative Lager in Sachen Affirmation des Bestehenden
um Längen. So schreibt Ursula März in einer Renzension des Romans
Rosenfest von Leander Scholz in der Frankfurter Rundschau
vom 10. März 2001: Der Drang, den Außenminister als Revolutionsverbrecher
festzunageln, entspringt der gleichen Phantompolitik, auf der die Selbstkultivierung
der RAF zu Revolutionshelden beruht. Die Idee, ein Mensch müsse sich
daran erinnern können, mit wem er vor über zwanzig Jahren gefrühstückt
hat, und er sei, falls das Frühstück im Beisein einer Terroristin
stattfand, als Politiker nicht mehr tragbar, zieht zwar keine Mordattentate
nach sich. Aber sie ist so irre wie die Überzeugung jener Terroristin,
in einer Art zweitem Nazi-Staat auf die Welt gekommen zu sein.
Phantompolitik: Wer also immer noch glaubt, für den Aufbruch militanter
und bewaffneter Praxis in Deutschland nach 1945 gesellschaftliche Gründe
vorfinden zu können, der muß offensichtlich unter Halluzinationen
leiden. Der Versuch, die RAF irgendwie mit der SS in Verbindung zu bringen,
ist zwar nicht neu. Solange jedoch der Nationalsozialismus tendenziell eher
verdrängt werden mußte, konnte diese Projektionsleistung kaum annähernd
eine solch diskursive Attraktivität ausstrahlen wie heute, da allerorten
offen mit dem Nationalsozialismus umgegangen wird. Grundlage dieser
Offenheit ist jedoch unter anderem das stille Einverständnis, daß
die Nach-45-Gesellschaft von personellen Kontinuitäten abgesehen
nichts, aber auch gar nichts mit ihrer Vorgängergesellschaft gemein
habe. Die Ironie der Geschichte ist nun die, daß gerade die RAF, die
ja am vehementesten von einer faschisierten BRD sprach wofür sie
bis heute so gehaßt wird , eben dieser Verdrängungsleistung
zuarbeitete. Denn in Wirklichkeit ist das strukturelle, aber auch ganz praktische
Fortwirken des Nazismus wesentlich tiefschichtiger, als es die RAF, für
die der Faschismus nur die zugespitzte Herrschaft des Großkapitals
gegen das Volk darstellte, je benennen konnte.
Mit der gelungenen Einfügung des Geredes um die RAF in das von der Aufarbeitung
der NS-Vergangenheit hat die Entpolitisierung und Dethematisierung des
bewaffneten Kampfes nun also eine weitere Facette hinzu gewonnen. Die popkulturellen
Artefakte der letzten Jahre über schöne, Sex treibende Menschen,
die alle ihre Psychosen und zufällig auch noch Knarren im Gepäck
hatten, werden wohl bald um einen neuen Plot ergänzt werden müssen.
Dann nämlich, wenn Götz Aly RAF-RZ: Heydrichs teutonische
Erben inszeniert.
Tja, so fühlt man sich also provoziert, arbeitet sich am bewaffneten
Kampf ab und gerät schließlich in Versuchung, diesen zu legitimieren,
als ob es darum ginge. Denn die eigentliche Re-Politisierung und -Thematisierung
der Militanz in Zeiten wie diesen bestünde doch darin, ihren ureigensten
kritischen Gehalt aufzugreifen: das Reden über das Wesen und die Verfaßtheit
einer Gesellschaft, die selbst und gerade in ihrer banalen, unspektakulären
Normalität vor Gewalt nur so strotzt.
Strukturelle Gewalt und bürgerliche Schizophrenie
Das Gesicht der Gewalt und mit ihr auch ihre Wahrnehmung hat sich stetig verändert,
seitdem direkte, persönliche Herrschaftsbeziehungen, willkürliche
despotische Gewalt dem kapitalistischen Modernisierungsprozeß im Wege
zu stehen begannen. Es ist kein Zufall, daß gerade das Bürgertum
als die treibende Kraft der Gewalttransformation am schnellsten den schizophrenen
Ekel vor den sichtbaren, riechbaren und hörbaren Ausdrücken der
Gewalt entwickelte und zugleich das philanthrophische Geschäft der Unsichtbarmachung
von Gewalt ersann.
Heute ist die Gewalt in der Tat verbannt und verdrängt. Und doch ist
sie als stumme Gewalt umfassender und unnachgiebiger präsent als je zuvor:
als verobjektiviertes, quasi naturgesetzliches Ensemble von Zwängen,
welche die bürgerliche Produktionsweise bis in die letzte Zelle menschlichen
Lebens einpflanzt, ohne daß es hierzu einer befohlenen, offenen Gewaltanwendung
bedürfte. Wäre das kapitalistische Prinzip tatsächlich eines
unter vielen, eines, das man wählen könnte oder nicht, wie es der
ideologische Schleier nahegelegt, dann könnte wahrlich nicht von Gewalt
gesprochen werden. Doch man spiele einmal den naiven Gedanken durch, sich
der Wahl entziehen zu wollen und mit ein paar Dutzend frei assoziierter
Gleichgesinnter auf einem Stückchen Land die Produktion nach Maßgabe
der eigenen Bedürfnisse in die Hände nehmen zu wollen ... Freiheit,
Gleichheit, Gewaltfreiheit: Wo immer man sie auch zu finden glaubt
das Kapitalverhältnis ist immer schon da.
Der Geltungsanspruch des bestehenden Kapitalverhältnisses, das die Beziehungen
der Menschen untereinander als sozialdarwinistisches Verhältnis von Siegern
und Verlierern ordnet und damit Aggressivität und Gewalt permanent erzeugt,
ist totalitär und damit unsichtbar zugleich. Es ist eine Ironie der Geschichte,
daß dieses Verhältnis die Umgangsformen zu zivilisieren imstande
ist ihre eigene Leistung beständig untergräbt. Nicht zufällig
arbeitet sich der Kulturpessimismus des Konservatismus mit seiner Klage über
den heutigen Werteverfall seit ehedem an diesem Widerspruch vergeblich ab.
Wer die versteckte Gewalt dennoch sichtbar werden läßt, setzt sich
der aggressiven Gewalt der Gewaltverdränger aus und dient zugleich als
Projektionsfläche für die verdrängten und damit nicht bewältigten
eigenen Aggressionsbedürfnisse. Menschen verhungern ihr
schweigt, Scheiben zersplittern ihr schreit
so moralisch diese alte Parole anmuten mag, so deutlich trifft sie den Kern
des bürgerlichen Gewaltbegriffes: absolute Verinnerlichung der bestehenden
Ordnung als gewaltlos und frei, als Telos der Geschichte bei gleichzeitiger
Verdrängung und Außenprojektion ihrer immanenten Gewalt.
Die aktuellen Debatten um die Bewertung von 68 und die absehbaren Folgen
hinsichtlich der Akzeptanz gesellschaftsverändernder Ansätze zeigen
eines einmal mehr: Die Diskussion über den ethischen und politischen
Sinn und Unsinn linker Gewalt, die als Gewalt grundsätzlich immer auch
ein problematisches, reaktionäres Moment in sich tragen kann, wird selbst
reaktionär, wenn von der strukturellen Gewalt geschwiegen wird.