Wie die männliche Homosexualität zu ihrem Körper kam. Von Tjark
Kunstreich
Ist
schwule Identität etwas, auf das man stolz sein kann oder sind
womöglich die Bekenntnisse, "proud to be gay" und stolz,
ein Deutscher zu sein" gar nicht so weit voneinander entfernt? Der positive
Bezug auf die Identität einer Gruppe wurde und wird, auch von Linken,
mit ihrer Unterdrückung, ihrem Minderheitenstatus begründet. Der
Unterschied zwischen deutscher und schwuler Identität läge also
darin, dass die Deutschen sich nur einbilden, was für die Schwulen tatsächlich
gilt: sie werden unterdrückt. Doch das nützt nicht viel, die Folgen
sind dieselben. Nicht nur, weil man, siehe Gigi 3/99, offensichtlich hierzulande
gleichermaßen stolz auf beides sein kann. Die zunehmend wahnhaften Züge
der Identitätspolitik kommen jedenfalls, in beiden Fällen, in dem
Gefühl zum Ausdruck, man sei Opfer dunkler Machenschaften und vorzugsweise
"der Juden".
Identität
ist immer Identifikation und Abgrenzung zugleich. Als notwendiger Bezugspunkt
jeglicher Politik erscheint Identität als die Übereinstimmung dessen,
was dem Individuum aus irgend einem Grund gegeben ist, und dem Einverständnis
des Individuums in dies Gegebene, schließlich als über- oder gar
ahistorischer Prozess, den das Individuum notwendig zu durchlaufen hat. Dieser
positive Bezug auf Identitäten führt jedoch nicht zur Emanzipation,
sondern zur Verfestigung des schlechten Gangs der Dinge; wobei die geforderte
Infragestellung und Überwindung von Identitäten ebensowenig zu einer
Veränderung beiträgt. Denn in dem Maße, wie Identität
als subjektiv-konstruierte wahrgenommen wird, wird der gesellschaftliche Zwang
zur Identität ausgeblendet, dessen Erkenntnis die Grundlage der Kritik
und der Emanzipation wäre.
Der
Begriff der Sodomie im elisabethanischen England war von unserem heutigen
der Homosexualität unterschieden. Der Terminus "deckte eine ganze
Reihe sexueller Akte ab, von denen jene zwischen Leuten gleichen Geschlechts
nur ein Teil waren," schreibt Alan Bray in seinem Aufsatz Homosexualität
und die Zeichen der Männerfreundschaft im elisabethanischen England.
Sodomie war ein schweres Vergehen wie Atheismus, Blasphemie, Mord, Prostitution
und Hexerei ein Zeichen des Bösen. Nun gab es aber ebenso, und
zwar anerkannt als eine der höchsten Formen der Courtoisie der
höfischen Etikette , enge Männerfreundschaften, deren Zeichen
in einem offen zärtlichen Umgang und dem Schlafen im selben Bett bestanden.
Niemand wäre auf die Idee gekommen, diese intimen Beziehungen zwischen
Herr und Diener, aber auch zwischen Männern gleichen Standes als Sodomie
zu bezeichnen, obwohl die Abgrenzung sicherlich schwer fiel. Selbstverständlich
wurden solche Freundschaften ab und an auch als Sodomie denunziert, aber Bray
entwickelt in seinem Aufsatz, dass sich heute nicht mehr nachvollziehen ließe,
ob diese Denunziationen auf Tatsachen beruhten oder nicht. Im Gegenteil analysiert
Bray Dokumente solcher Männerfreundschaften, Briefe und Gedichte, die
zwar mit heutigen Augen gelesen ausgesprochen schwul klingen,
für die damalige Zeit in ihrer Betonung der gegenseitigen Zuneigung jedoch
dem geltenden Moralkodex entsprachen.
In
Christopher Marlowes Stück Edward II., so Bray, wird weniger über
Edward II. als historische Figur denn über die Männerfreundschaft
im elisabethanischen England ausgesagt. Was in damaligen Zeiten als Intrige
gegen eine vollkommen normale Männerfreundschaft gelten konnte, die durch
politische Intriganten denunziert wird, interpretiert man heute als Dokument
der Verfolgung eines schwulen Paares: Die Beziehung zwischen Edward und seinem
vorgeblichen Geliebten Galveston trägt jedoch lediglich die Merkmale
dieser Männerfreundschaft. Ob solche Beziehungen mehr als nur latent
homosexuell waren, ist bei der Betrachtung gleichgültig: Eine sexuelle
Identität als schwuler Mann war nicht notwendig. Die elisabethanische
Gesellschaft, so Bray, "zog es vor, es nicht genau wissen zu wollen,
aber wenn es ihnen zupass kam, bot ihr das eine naheliegende Waffe; zugleich
machte es diese Intimität offener und weniger sicher in ihrer Bedeutung
... Diese Ambiguität läßt auf eine Spannung im elisabethanischen
England schließen, die wir heute nicht gewöhnt sind."
Nur
ein knappes Jahrhundert später schon existiert diese Ambivalenz nicht
mehr. "Die molly houses des frühen achtzehnten Jahrhunderts
stehen in einem scharfen Kontrast zu den sozial amorphen Formen, in denen
Homosexualität statt hatte," schreibt Bray in seinem Buch Homosexualität
im England der Renaissance. Molly houses können wir uns etwa so vorstellen,
wie ein Mitglied der Society for the Reformation of Manners sie in denunziatorischer
Absicht beschrieb: "Ich fand zwischen vierzig und fünfzig Männer
vor, die miteinander Liebe machten, wie sie es nannten. Sie sitzen einander
auf den Schößen, küssen sich in verdorbener Weise und benutzen
ihre Hände unschicklich. Dann stehen sie auf, tanzen, machen Scherze
und imitieren Frauenstimmen ... Dann umarmen sie sich, spielen und freuen
sich, und gehen paarweise in einen anderen Raum im selben Stockwerk, um, wie
sie es nennen, zu heiraten."
Sodomie
war von einer Sünde zu einer sündigen Eigenschaft geworden; nicht
der Mensch wurde für eine schwere Verfehlung gestraft, sondern der Homosexuelle
verfolgt. Deswegen ist auch einiges über die molly houses und ihre Besucher
aus Prozessakten bekannt: Sie waren ein Ghetto, manchmal klaustrophobisch
eng und bedrückend, manchmal "ein Platz, um die Maske abzunehmen",
wie Bray schreibt. In ihrer Sprache wurden heterosexuelle Begriffe ironisch
gewendet, der Raum, in dem Paare miteinander Sex haben konnten, war die "Kapelle",
der sexuelle Akt "heiraten" oder "Hochzeitsnacht", entsprechend
war "husband" der Sexpartner. Es gab Tuntenbälle, "die
Männer nannten einander 'Meine Liebe'", wie ein zeitgenössicher
Denunziant schrieb.
1726
fand die Verfolgung der Besucher der molly houses einen vorläufigen Höhepunkt.
Viele der Häuser wurden durchsucht und geschlossen, die Besucher verhaftet.
Vielen von ihnen wurde der Prozess gemacht, einige wurden gehängt. Es
gab auch Widerstand: "Als 1725 eine Razzia in einem molly house in Covent
Garden stattfinden sollte, setzten sich die Anwesenden, viele in Frauenkleidern,
mit vorbereiteter Militanz zur Wehr."
Wie
kam es zu diesem Umschlag in weniger als einhundert Jahren wie wurde
Homosexualität von der Handlungs- zur Seinskategorie? Die molly houses,
sowohl geschützte Gegenwelt als auch stigmatisierendes Ghetto, als Ausdruck
des vom "Normalen" separierbaren Homosexuellseins nehmen die moderne
Identitätsfalle vorweg. Sie ziehen Hass auf sich, weil auf sie die gelingende
Selbstbestimmung, und sei es nur die der Körper, als ein nur wenigen
vorbehaltenes Glück projiziert wird. In der Exkommunikation und der durch
sie ermöglichten Verfolgung des Homosexuellen im besonderen, des Unsittlichen
im allgemeinen, exorziert die bürgerliche Gesellschaft ihre eigene Utopie,
verneint ihr transzendentes Moment: Der disziplinäre Zwang des Kapitalverhältnisses
selbst kassiert die durch ihn ermöglichte Individuation.
Die
Verfolgung der mollies im Anfang des 18. Jahrhunderts war ein früher
Ausdruck des Volksstaates, die Pogrome folgten der Gesetzmäßigkeit
des Bündnisses von Mob und Elite, von Pöbel und Staatsmacht. Wenn
1726 einer der Angeklagten vor Gericht sagt: "Ich glaube, dass es kein
Verbrechen ist, meinen eigenen Körper zu meinem Vergnügen zu benutzen",
ist dies Ausdruck des frühen Subjekts, dass seine Autonomie noch zu wahren
bemüht ist, dessen Verfolgung allerdings den gleichen Ursprung hat wie
die Autonomie, die es gegen sie zu verteidigen hat.
Der
Zusammenhang zwischen Durchsetzung des Kapitalverhältnisses und Herausbildung
von Identitäten lässt nur einen Schluss zu: Identität ist objektiver
Zwang. Schwule Identität selbst ist schon ein Produkt der Repression.
Der subjektiv allzu verständliche Versuch, dieser bitteren Erkenntnis
zu entfliehen, sei es durch ideologische Aufladung, sei es durch ein Spiel
changierender, queerer Identitäten, bleibt bestenfalls folgenlos, schlimmstenfalls
endet er in dem Versuch, durch Assimilation gesellschaftliche Anerkennung
zu erheischen.
Die
Kritik dieses Zwangsverhältnisses führt weit über die sexuelle
Emanzipation hinaus: Homophobie funktioniert unabhängig von Schwulen
wie Antisemitismus auch ohne Juden existent ist, weil sich das Subjekt via
Homophobie, Rassismus, Antisemitismus usw. seiner Zugehörigkeit zum gesellschaftlichen
Ganzen versichert. Deswegen trifft Sartres Wort zu, dass der Antisemit den
Juden erfinden müsste, gäbe es ihn nicht; derselbe Mechanismus gilt
für die Homophobie: Gäbe es nicht jemanden, dessen Sexualität
nicht durch Fortpflanzung legitimierbar ist, der Homophobe müsste ihn
erfinden.
Soeben erschienenen ist das Buch von Tjark Kunstreich: Ein deutscher Krieg. Über die Befreiung der Nation von Auschwitz. 88 Seiten, 12 Mark, Ça ira: Freiburg 1999.