Ethnisierende
Geschichtsschreibung hat wenig mit historischer Wahrheit und politischer Bildung
zu tun, aber viel mit ökonomischen Interessen. Von Georg Klauda und
Eike Stedefeldt
Schwule
und lesbische Erinnerungspolitik ergeht sich seit geraumer Zeit in einer sachlich
unhaltbaren Selbstethnisierung und Konstruktion einer Verfolgungs- und Widerstandsgeschichte
analog zu den Hauptopfergruppen des NS-Faschismus. Hierzu war stets eine Adaption
historischer Fakten notwendig, die auf die Behauptung einer systematischen
Verfolgung und Vernichtung der "homosexuellen Minderheit" hinauslief.
Ein
Beispiel hierfür ist die zur Zeit im Schwulen Museum Berlin und in der
KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen gezeigte Doppelausstellung über die
"Verfolgung homosexueller Männer in Berlin 1933-1945". Wo das
Konzept schlicht "unsere homosexuellen Opfer" lautet, erfahren rückwirkend
auch der Täterseite zuzuordnende Personen eine Aufwertung als "homosexuelles
NS-Opfer", so an erster Stelle der auf Anweisung Hitlers und Himmlers
1934 in einem Machtkampf zwischen Reichswehr, SS und SA unter dem Vorwand
der Homosexualität ermordete SA-Stabschef Ernst Röhm.
Einmal
mehr erweist sich, dass die Reduzierung der Opfer auf ihre erotische Präferenz
en passant auch jene rehabilitiert, die das mörderische System erst mit
schufen und stützten, das sie später zum Freiwild machte. Da wäre
zum Beispiel "bis 1945 an herausragender Stelle" tätige Theaterintendant
Hanns Niedecken-Gebhard. Er entging nach einer Denunziation dem Zuchthaus
durch Scheinheirat mit der Bühnenbildnerin Lotte Brill und choreographierte
statt dessen die vor Hakenkreuzen, Fackeln und Lichtdomen nur so strotzenden
Festspiele zur Olympiade 1936 und zur 700-Jahrfeier Berlins 1937. Niedecken-Gebhard,
der als "bekannte Persönlichkeit des Musiklebens und Tanztheaters"
bis 1945 "an herausragenden Stellen" tätig blieb, wird von
den Autoren der Exposition genauso gewürdigt wie Rolf Kappe, "der
als einer der wenigen homosexuellen Pädophilen ein KZ überlebte"
und "als politisch bewusster Mensch" selbst in Neuengamme, ab 1943
in Sachsenhausen noch Widerstand leistete, wo er unter Lebensgefahr ausländische
Rundfunknachrichten ins Hauptlager schmuggelte. Während man über
Peter Limann, den bis 1939 im kommunistischen Widerstand aktiven Freund des
wenige Tage nach der Machtübergabe an die Nazis verstorbenen ranghohen
KPD-Funktionärs Richard Linsert, fast nichts erfährt, wird skandalöserweise
ein Otto Peltzer zum bloßen Opfer stilisiert. Die Karriere des weltberühmten
Leichtathleten endete 1935 mit einem Urteil nach §175; ab 1938 kam er
nach Plötzensee, 1941-45 ins KZ Mauthausen. Davor jedoch redigierte er
die Reichswacht, um "die Jugend auf die Bedeutung der Rassenhygiene hinzuweisen",
plädierte in seiner mit summa cum laude bewerteten Dissertation für
"die zwangsmäßige Unfruchtbarmachung geistig Minderwertiger
und somit Entarteter" und deren "Absonderung in Arbeitskolonien",
trat 1933 NSDAP und SS bei und hielt unter anderem Reden für das SS-Siedlungsamt.
Seine Konzepte zur sportlichen Jugenderziehung reichte Peltzer bei der vom
Hitler-Zögling Baldur von Schirach beherrschten "Reichsjugendführung"
ein und hoffte sogar (letztlich vergeblich) auf den Posten als "Reichssportkommissar".
Verdient ein solcher Mann, in eine Reihe gestellt zu werden mit einem Walter
Timm? Der Lehrer aus Münster wurde 1937 wegen §175 zu sechs Jahren
Zuchthaus verurteilt und überlebte 1945 den Todesmarsch von Sachsenhausen.
Nach der Befreiung durch die Rote Armee im mecklenburgischen Grabow ließ
er sich dort nieder, heiratete und "setzte sich für die antifaschistische
und sozialistische Entwicklung in der DDR besonders auf kulturellem Gebiet
ein" (Ausstellungstext), zuletzt ab 1951 als Leiter der Kreisvolkshochschule
in Kyritz. Dafür erhielt er den Staatspreis der DDR erster Klasse.
Neu
ist diese ahistorische Vermischung politischer Biographien nicht, wie ein
Rückblick zeigt. "Ich denke, mancher der Gekommenen hatte andere
Vorstellungen davon, was ihn heute abend erwartet", kommentierte bereits
am Abend des 25. März 1998 Barbara Teuber von der Volkshochschule Prenzlauer
Berg bitter einen Vortrag, den Manfred Herzer im Rahmen einer gemeinsam mit
der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft (MHG) organisierten Reihe "Sexualität
und Moderne" gehalten hatte. Herzer, Mitarbeiter des Schwulen Museums,
hatte für sein Referat "Schwule Widerstandskämpfer gegen den
Nationalsozialismus" in der Heinrich-Böll-Bibliothek "Neue
Studien: Wolfgang Cordan, Wilfried Israel, Theodor Haubach, Otto John"
annonciert. Herausgekommen war eine in jeder Hinsicht krude Mixtur: Einerseits
wären Homosexuelle von den Nazis verfolgt worden, andererseits stelle
sich bis heute die Frage nach der "großen Affinität"
homosexueller Männer zum Nationalsozialismus. "Für einen Schwulen,
den nicht Bildung vor der Verführung schützte", so Herzer,
"konnten die militärischen Nazi-Organisationen wie eine Anhäufung
junger, aggressiver Männer wirken".
Nur,
in welchem auf Körperdrill fixierten Männerverein ist Homoerotik
nicht latent? Und selbst, wenn es so gewesen sein sollte: Was erzeugte dann
die magische Anziehungskraft der "arischen" Windhund-, Leder- und
Kruppstahl-Abteilungen, an der es kommunistischen und sozialdemokratischen
Kampfverbänden offenbar gebrach? Die Herrenmenschen-Ideologie? Die taillierten
Uniformen? Es war nicht ersichtlich, ob Herzer dies jemals ernsthaft interessiert
hat. Zumal er, auf diesen Widerspruch hingewiesen, in einem rhetorischen Fauxpas
lediglich sein Bedauern darüber äußern konnte, der kommunistische
Arbeitersportler Werner Seelenbinder sei "noch gerade rechtzeitig umgebracht
worden", bevor man Genaueres über sein Sexualleben habe erfahren
können.
Nur,
indem Herzer seinen Recherchen über das "Tabu Homosexualität
und Widerstand" eine diffuse, besser: gar keine Definition von Widerstand
zugrunde legt, kann es gelingen, angeblich so ehrenwerte "Männer
des 20. Juli" wie Otto John oder den Sozialdemokraten Theodor Haubach,
der bis 1933 Pressechef des Berliner Polizeipräsidenten und später
dem stramm patriotischen Kreisauer Kreis um den OKW-Offizier von Moltke zugehörig
war, problemlos mit dem Orientalisten und Schriftsteller Wolfgang Cordan zu
vereinen. Cordan stand eindeutig auf der anderen Seite: Er emigrierte bereits
1933 nach Paris, schrieb für die kommunistische Humanité, leistete
ab 1934 in den Niederlanden bewaffneten Widerstand und versteckte zahlreiche
Juden vor der Gestapo.
Aber
so funktioniert heute schwule Geschichtsschreibung: Neben der durchweg auf
Indizien fußenden Annahme einer Vorliebe fürs gleiche Geschlecht
auch Unterschiede in sozialer Herkunft, beruflicher Biographie und politischen
Überzeugungen in Erwägung zu ziehen, ist nicht en vogue, denn das
stünde der nachträglichen Konstruktion eines originären "schwulen
Widerstandes" mithin eines politisch wie ökonomisch verwertbaren
neuen Forschungsgegenstandes entgegen. So beschränkt sich auch
Herzer vor allem auf die Frage: War ers oder war ers nicht? Alles
andere verblasst hinter einer postpubertären Begierde nach sexueller
Identifizierung und einer Unzahl mehr oder weniger heiterer bis süffisanter
Episoden. Dass Wilfried Israel, Erbe des damals zweitgrößten deutschen
Warenhauskonzerns, schon im Winter 1932 gegenüber seinem englischen Freund,
dem Schriftsteller Christopher Isherwood, einen "Aktionsplan für
die Juden für den Fall eines Wahlsieges Hitlers" skizzierte und
über den "Hilfsverein verfolgter Juden" rund 52.000 Menschen
teils unmittelbar aus den KZ freikaufte, bevor er im Mai 1939 nach London
und dann nach Lissabon floh (er wurde 1942 von der NS-Luftwaffe über
dem Golf von Biscaya abgeschossen), qualifiziert Herzer hingegen nicht als
"echte Widerstandstaten". Was ist das auch schon im Gegensatz zu
einem untauglichen Sprengsatz, im Führerhauptquartier deponiert von ausgewiesenen
Militärs, die zuvor jahrelang den Vernichtungskrieg mit vorbereitet und
befehligt hatten.
In
ihrer Anekdotenhaftigkeit weist solche Geschichtsbetrachtung ähnliche
Qualitäten auf wie die Erzählungen Charlotte von Mahlsdorfs, die
sich noch immer der Rettung von Gründerzeitmobiliar rühmt. Dass
sie sich gezielt um das preiswert zu erstehende Eigentum deportierter Juden
bemühte, hat auch die Schwulenpresse nie kritisiert, die selbst Protagonistin,
Propagandistin und letztlich ökonomische Profiteurin des makabren Spiels
mit Identitäten und Legenden ist.
Grundsätzlich
unterschlagen wird im Zuge dieser wohlfeilen Legendenbildung die Kontinuität
der strafrechtlichen Verfolgung vor 33 und nach 45, die Tatsache,
dass nicht ihre Antihomosexualität die Nazis von demokratischen Politikern
unterschied, sondern wie Claudia Schoppmann in ihrem Buch Zeit der Maskierung
hervorhebt, "vielmehr die Art und Weise, mit der diese Ideologie schließlich
in die Praxis umgesetzt wurde". Tatsächlich hatte das Bundesverfassungsgericht,
als es am 10. Mai 1957 die "einhellige Meinung" bestätigte,
"die Paragraphen 175 und 175a seien nicht in dem Maße nationalsozialistisch
geprägtes Recht, dass ihnen in einem freiheitlich-demokratischen
Staate die Geltung versagt werden müsse", schon allein dadurch nicht
ganz unrecht, dass es durch seinen Spruch höchstselbst das vermeintliche
NS-Gesetz auch für die Bundesrepublik annehmbar machte. Es sorgte dafür,
dass der Paragraph 175 in seiner "Nazi-Fassung" bis 1969 fortdauerte
und die Rosa-Winkel-Häftlinge bis heute von jeder Entschädigung
wirksam ausgegrenzt wurden.
Es
hatte aber auch insofern recht, als sich die Strafbestimmungen für männliche
Homosexualität im "Dritten Reich" weitgehend am Entwurf eines
Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches orientierten, der von einer Mitte-Rechts-Regierung
bereits 1925 vorgelegt worden war. Der Begründung für den in diesem
Strafrechtsentwurf neuen Paragraphen 297, der sich auf sogenannte qualifizierte
Fälle wie Prostitution oder Geschlechtsverkehr mit männlichen Minderjährigen
bezog, konnte sich die SPD im Strafrechtsausschuss von 1929 widerspruchslos
anschließen: "Dabei ist davon auszugehen, dass der deutschen Auffassung
die geschlechtliche Beziehung von Mann zu Mann als eine Verirrung erscheint,
die geeignet ist, den Charakter zu zerrütten und das sittliche Gefühl
zu zerstören. Greift diese Verirrung weiter um sich, so führt sie
zur Entartung des Volkes und zum Verfall seiner Kraft."
Die
"Entartung des Volkes" entstammt jenem Jargon, den die Sozialdemokratie
schon während des Ersten Weltkriegs entwickelte und der heute allein
den Nationalsozialisten ohne Bindestrich zugeschrieben wird. "Elemente
eines neuen Deutschtums" (August Winnig), "militaristischer Geist"
(Nachum Goldmann), "nationale Arbeiterpolitik" (Anton Fendrich),
die "Schicksalsgemeinschaft", beruhend auf "Blutsverfestigung
und Boden" (Hermann Heller), die "Volksgenossenschaft des nationalen
Sozialismus" (Johann Plentge) wurden von den Sozialdemokraten im Rahmen
ihrer Sekundantentätigkeit für den deutschen Imperialismus bereits
1915 beschworen. Clemens Nachtmann gibt denn auch zu bedenken: "Gegenüber
einer Partei, die von Karl Kautsky national-sozialistisch genannt
wurde und dies nicht als Vorwurf oder Beleidigung, sondern als korrekte Feststellung
und Zuspruch begriff, war eine Ideologiekritik des Reformismus, die über
die von ihm verbreiteten Illusionen aufklären zu können meint, am
Ende die KPD hat dies im Prinzip ganz richtig gesehen und kam deshalb
auf den Begriff 'Sozialfaschismus. Die sozialdemokratischen Konzepte
waren der erste Vorschein jener Krisenlösungsstrategie, mit der die Nazis
später ans Ruder kamen." Sie ernteten, so Nachtmann weiter, was
die Sozialdemokratie gesät hatte.
Mit
den Stimmen von SPD, KPD und Demokraten wurde 1929 im Strafrechtsausschuss
der Wegfall des im neuen Strafrechtsentwurf "§296" lautenden
175er beschlossen. Damit war für die Sozialdemokratie nicht eine Billigung
des "homosexuellen Lasters" verbunden. Vielmehr schloss man sich
der Ansicht des damals wegen seiner ausgiebigen Vortragstätigkeit relativ
berühmten SPD-Parteimitglieds Magnus Hirschfeld an, dass der Paragraph
schon allein deshalb irrational sei, weil eine beischlafähnliche Handlung
unter ihm nur ganz zufällig ins Netz der Behörden geriet. Hirschfeld
schilderte diesen Widersinn in deutlichen Worten: "In Deutschland aber
wird immer noch unter etwa einer Million homosexueller Handlungen durchschnittlich
eine aus dem Dunkel der Nacht in die Helle des Tages, aus der Verschwiegenheit
des Schlafzimmers an den Pranger des Gerichtssaals gezerrt, wo sich dann Staatsanwalt
und Rechtsanwalt, Richter und Angeklagte lang und breit darüber streiten,
ob die Berührung zweier Menschenkörper in einer noch nicht oder
schon strafbaren Form stattgefunden hat." Darüber hinaus war der
Paragraph Quell eines ausgreifenden Erpresserwesens, wie gleichfalls nicht
nur Hirschfeld der Öffentlichkeit wiederholt auseinandergesetzt hatte:
"Noch vor einem Menschenalter hatte nahezu jeder Urning seinen Erpresser.
Er gehörte zu ihm wie der Parasit zu dem Lebewesen, in dem und von dem
er lebt. Wie eine leibhaftige Drohung begleitete der Mitwisser einer schwachen
Stunde den Urning durch sein Leben."
Das
sollte unter dem neuen Paragraphen anders werden, der zwar Straffreiheit für
Sex unter Männern über 21 Jahren vorsah, aber homosexuelle Prostitution,
Sex mit einem männlichen Minderjährigen und "Missbrauch"
von Abhängigen im Dienst- und Arbeitsverhältnis als "schwere
Unzucht" verfolgen sollte. Diesmal waren keine beischlafähnlichen
Handlungen mehr erforderlich. Nicht nur gegenseitige Onanie, sondern auch
ein Kuss, eine Umarmung konnten jetzt strafrechtlich verfolgt werden.
Im
März 1930 wurde im "Interparlamentarischen Ausschuss für die
Rechtsangleichung des Strafrechts zwischen Deutschland und Österreich"
schließlich auch die Wiedereinsetzung des mit dem §175 inhaltsgleichen
§296 durchgesetzt. Die Nazis machten indes aus dem neuen §297, dem
im Strafrechtsausschuss 1929 mit Ausnahme der KPD alle Fraktionen zugestimmt
hatten, den §175a und verdoppelten im Rahmen einer Umdefinition vom "Vergehen"
zum "Verbrechen" den Strafrahmen. Die Füllung des Begriffs
"Unzucht" mit allen möglichen Handlungen wurde in den §175
übernommen. Die 1935 umgesetzte Verschärfung zog eine Verzehnfachung
der Zahl der Verurteilten auf jährlich 8.000 nach sich.
Die
Kontinuität der Verfolgung nach 45 zeigen Biographien von nach
Kriegsende immer wieder gemäß §175 Inhaftierten. Heinz Dörmer
etwa, dessen Freund Werner Henneberg in KZ-Haft starb, brachte insgesamt fast
zwei Jahrzehnte in deutschen Gefängnissen und Konzentrationslagern zu.
100.000 Männer wurden während der Adenauer-Zeit nach §175 vor
Gericht gestellt, etwa die Hälfte von ihnen zu teils mehrjährigen
Haftstrafen verurteilt. Für viele bedeutete dies das Ende ihrer Karriere,
Studenten wurden nach ihrer Haftzeit exmatrikuliert. Prozesswellen, wie die
in Frankfurt 1950, lösten eine Reihe von Selbstmorden und Doppelselbstmorden
aus. Dass der Bundestag nur die bis Kriegsende gefällten Urteile aufgehoben
hat, obwohl die Rechtsgrundlage danach die gleiche war, ist ein Skandal, der
zum Behufe der Konstruktion einer besonderen Verfolgung der Homosexuellen
unter dem Nationalsozialismus schon einmal hingenommen wird.
Groteskerweise
wird die Kontinuität dort herausgestrichen, wo es sie gerade nicht gab.
So berief sich der Spiegel in der Ausgabe vom 24. 6. 1996 auf den damals als
Medizinhistoriker an der Berliner Charité tätigen kirchlichen
DDR-Schwulenaktivisten Günter Grau und seine Forschungen bei der Gauck-Behörde:
"Grau, der bereits die Verfolgung von Homosexuellen in der NS-Zeit untersuchte,
hat jahrelang Stasi-Akten und SED-Papiere durchstöbert. Das Ergebnis
seiner Archivrecherche: Nahezu ohne Zäsur knüpften die SED-Funktionäre
an die Schwulen- und Lesbendiskriminierung der Nationalsozialisten an. Und
oft glich die Argumentation der Einheitssozialisten der Nazi-Propaganda bis
aufs Wort." Im anderen deutschen Staat hatte das Oberste Gericht jedoch
1950 die 1935er zugunsten der liberalen Fassung aus der Kaiserzeit und der
Weimarer Republik aufgehoben. Später entschied das Kammergericht Berlin-Ost,
"dass bei allen unter §175 alter Fassung fallenden Straftaten weitherzig
von der Einstellung wegen Geringfügigkeit Gebrauch gemacht werden soll".
In den 1960er Jahren wurden daher homosexuelle Handlungen unter erwachsenen
Männern nicht mehr bestraft. 1988 fiel der 1968 zum §151 reformierte
§175 ersatzlos.
Die
NS-Begründung für die Verfolgung homosexueller Handlungen unterscheidet
sich nicht fundamental von der Auffassung der 1929 im Reichstag vertretenen
Parteien (außer der KPD). Dies betont auch Claudia Schoppmann, eine
der renommiertesten Forscherinnen auf diesem Gebiet: "Weder das Jahr
der Machtübernahme noch das Kriegsende bedeuteten eine grundsätzliche
ideologische Zäsur in der Einstellung zur Homosexualität."
Unvergleichbar mit der Weimarer Republik, dem Kaiserreich oder der Bundesrepublik
ist vielmehr das infernalische Lagersystem, in das, so die allgemeine Schätzung,
10.000 der 50.000 nach §175 Verurteilten verbracht worden seien. 6.000
der in die Kategorie "Berufsverbrecher" fallenden, mit dem rosa
oder auch dem grünen Winkel gekennzeichneten §175-Häftlinge
überlebten ihre qualvolle Behandlung im Konzentrationslager nicht. "Trotzdem
unterschied sich die Homosexuellenverfolgung grundsätzlich vom rassistischen
Vernichtungskrieg der Nazis", so Schoppmann weiter: Sie habe sich "nicht
gegen das Bestehen einer Anlage", sondern "homosexuelle Betätigung"
gerichtet und "nicht die physische Vernichtung aller Homosexuellen"
zum Ziel gehabt, sondern, wie zynisch auch immer, deren "Umerziehung".
Noch dazu wurde die Ablehnung der Homosexualität fast durchweg nicht
aus sich selbst, sondern antisemitisch begründet. Dies erkannte auch
der zur völkischen Rechten tendierende Verleger Friedrich Radszuweit,
welcher mit dem 50.000 Mitglieder zählenden Bund für Menschenrechte
dem größten Zusammenschluss von homosexuellen Geselligkeitsvereinen
in der Weimarer Republik vorstand. Der Völkische Beobachter wolle die
"Homosexuellen im allgemeinen nicht verdammen und nicht als Parias der
Gesellschaft hinstellen, sondern er will im großen und ganzen immer
nur das Judentum (besonders Magnus Hirschfeld) treffen, die in so unschöner
Weise das Geschlechtsleben der Menschen mit den brutalsten Ausdrücken
an die Öffentlichkeit zerren", schrieb Radszuweit 1931. Die Nazis
müssten nur lernen, dass Homosexualität keine in das deutsche Volk
hineingetragene "jüdische Seuche" sei.
Während
sich weder Hitlers Mein Kampf noch das 25-Punkte-Programm der NSDAP
mit Homosexualität beschäftigten, begründete der Völkische
Beobachter Homosexualität tatsächlich aus der jüdischen
Haltung zur Sexualität überhaupt: Der Jude arbeite zielstrebig an
der "Entsittlichung des deutschen Volkes, [...] weil er weiß, dass
er nur ein ganz und gar entartetes Volk auf die Dauer beherrschen kann und
weil er nach seiner rassischen Art nicht anders als durch die Genitalien zu
denken und das Weltbild anzuschauen vermag" (Nr. 21, 25.1.1929, S. 2).
Eine Haltung, die nicht neu war. 1897 hatte der bekannte antisemitische Publizist
Eugen Dühring über die an den Reichstag gerichtete Petition zur
Abschaffung des Paragraphen 175 geschrieben, er halte diese für einen
"Judenvorstoß, eine Action der Judenunsauberkeit, eine dreiste
Brüskierung aller sittlichen Gefühle", worin "die bekannte
jüdische, schon von Tacitus gegeißelte, bestialische Geschlechtsgier,
die über jedes Objekt, ungeniert durch Gesetzesandrohung, herfallen möchte",
zum Ausdruck komme.
1907
wurden vor Hirschfelds Haus anlässlich der Eulenburg-Affäre, in
der er als Sachverständiger vor Gericht dem Grafen Kuno von Moltke eine
unbewusste Homosexualität unterstellt hatte, Zettel mit der Einladung
zu einem antisemitischen Vortrag verteilt: "Dr. Hirschfeld eine öffentliche
Gefahr die Juden sind unser Unglück!" Auch Philipp zu Eulenburg
erblickte als Urheberin hinter der Affäre, die ihm seine Stellung am
Hofe kostete, die "internationale Judenschaft": In einer Artikelserie
hatte der Bismarck-Verehrer und Zeitungsverleger Maximilian Harden dem Kreis
um Eulenburg einen unheilvollen Einfluss auf den Kaiser zugeschrieben und
dies in Verbindung mit seiner angeblich homosexuellen Zusammensetzung gebracht.
Da sowohl Harden, als auch sein Anwalt Max Bernstein und der als gerichtlicher
Sachverständiger erstmals zu Berühmtheit gelangende Magnus Hirschfeld
Juden waren oder zumindest aufgrund ihrer Herkunft als solche galten, wurde
von vielen Antisemiten herausgestellt, wie fremd den "Hebräern"
und ihrem materialistischen Verständnis von Sexualität offenbar
die "ideale Männer-Freundschaft" sei, das "Edelste, was
wir Deutschen haben".
Viele
Jahre später wurde Hirschfeld auch von Adolf Hitler "des geistigen
Mordes an Tausenden deutschen Volksgenossen" bezichtigt und ihm, der
einige Tage zuvor, im Oktober 1920, von völkischen Studenten überfallen
worden war, weitere Ohrfeigen angedroht, "denn das, was dieser alte Schweinejude"
feilbiete, bedeute "gemeinste Verhöhnung des Volkes". Weil
die Staatsanwaltschaft ihn schütze, statt ihn vor den Richterstuhl zu
zitieren, müsse das Volk "selbst helfen und Volksjustiz ausüben".
Die
Debatte um die Strafbarkeit "widernatürlicher Unzucht", welche
sich zum Ende der Weimarer Republik entspann, nahm der Völkische Beobachter
zum Anlass für heftige antisemitische Tiraden: "Alle boshaften Triebe
der Judenseele, den göttlichen Schöpfungsgedanken durch körperliche
Beziehungen zu Tieren, Geschwistern und Gleichgeschlechtlichen zu durchkreuzen,
werden wir in Kürze als das gesetzlich kennzeichnen, was sie sind, als
ganz gemeine Abirrungen von Syriern, als allerschwerste, mit Strang oder Ausweisung
zu ahndende Verbrechen." (2.8.1930)
Zudem
gerät über die Frage, wer in den Konzentrationslagern ermordet wurde,
den die Opfer noch einmal rückwirkend nach Gruppen sortierenden Historikern
die allgemeine Charakteristik einer Gesellschaft aus dem Auge, in der das
Drauflosmorden eine unhinterfragbare Selbstverständlichkeit war. Nicht
mehr, ob das Leiden und die viehische Grausamkeit in den Konzentrationslagern
noch mit dem Verstand zu fassen seien oder ob man daran nicht irre werden
müsse, sondern wer litt und wieviel er litt, versuchten beflissen und
ohne Scheu nachfragende Historiker sich zu beantworten. Und auch Sozialwissenschaftlern
dünkt es wichtiger, den Nationalsozialismus als Summe diverser Anti-ismen
zu bestimmen und den Anteil der Homophobie daran zu bemessen, als sich die
Frage zu stellen, welche Subjektqualitäten auf seiten der deutschen Bevölkerung
das perfide Lagersystem und den grundlosen Massenmord an den europäischen
Juden ermöglicht haben. Das Blatt für "männliche Kultur",
Der Eigene von Adolf Brand, fragte 1928 bei den Parteien an, was sie
von der mannmännlichen Liebe hielten. Der erste Satz in der Antwort der
Nationalsozialisten lautete: "Nicht nötig ist es, dass Du und ich
leben, aber nötig ist es, dass das deutsche Volk lebt." Danach war
jeder weitere Satz eigentlich überflüssig.
Dass
schwule Gedenkpolitik auch anders denn als geschmacklose Identitätspolitik
möglich ist, bewies der vor kurzem auf der Berlinale gezeigte Film Paragraph
175. Das von einem jüdischen, schwulen Forscher des Holocaust Memorial
Museum in Washington begleitete Filmprojekt spielt keine Opfergruppen und
-identitäten gegeneinander aus, sondern zeigt im Gegenteil deren Überlappung.
Ob es sich um die wegen ihrer jüdischen "Herkunft" ins KZ verbrachte
Lesbe Annette Eyck handelte, oder um Gad Beck, einen linken schwulen Juden,
dessen ebenfalls jüdischer Freund lieber mit seiner Familie sterben wollte,
als sich von Beck befreien zu lassen. Gad Beck hatte in einer HJ-Uniform die
SS-Wache der in einer Schule zusammengepferchten und auf ihren Abtransport
wartenden Juden gefoppt; doch sein Geliebter machte, nachdem er mit Gad zunächst
aus dem Sammellager herausspaziert war, kehrt: "Gad, ich kann nicht mit
dir gehen. Meine Familie braucht mich. Wenn ich sie jetzt verlasse, könnte
ich niemals frei sein."
In
seinem Anfang benutzt der Film die in den 20er Jahren blühende, in ihrer
Travestie so lustig und fröhlich erscheinende lesbisch-schwule Szene
Berlins als dramaturgischen Ort, um durch diesen Kontrast den Schwerpunkt
auf die langsame Verwandlung einer liberalen, bürgerlichen Gesellschaft
in einen völkischen Mordzusammenhang zu legen. Angesichts des Leidens
von Pierre Seel, dessen Freund im Konzentrationslagern vor seinen Augen von
Hunden zerfetzt wurde, der von den grundlos eingesetzten Foltermethoden der
Nationalsozialisten in unfasslichem Zorn berichtet, wird die Frage, warum
er ins Konzentrationslager verschleppt wurde, fast sekundär.
Von
den Rosa-Winkel-Häftlingen leben heute weniger als zehn Personen. Die
aufwendig geführten Debatten um eine "kollektive Entschädigung"
setzen indes fast ausschließlich Organisationen ins Erbe ein, die mit
den Opfern des deutschen Faschismus in keinerlei direkter korporativer oder
gar personeller Verbindung stehen. Wie man dennoch Wiedergutmachung verlangen
kann für etwas, das man nie besessen hat, zeigt das Beispiel der bereits
erwähnten Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft (MHG): In Ermangelung eines
Rechtsnachfolgers für das von der damaligen Dr.-Magnus-Hirschfeld-Stiftung
getragene und den Nazis 1933 zerstörte Institut für Sexualwissenschaft
hat sich die 1982 gegründete MHG kurzerhand zur "Sachwalterin des
Hirschfeldschen Erbes" erklärt und fordert als solche "Entschädigung"
von der Rechtsnachfolgerin des "Dritten Reiches". Über den
Betrag, den diese Anrechtskonstruktion über den Stiftungszweck wert ist,
informierte ein Flugblatt, das die MHG anlässlich der oben erwähnten
Podiumsdiskussion verteilte: "1. Die Übergabe einer vergleichbaren
Immobilie an die MHG oder eine von ihr (mit) zu tragende Stiftung, Finanzierung
der Umbaukosten und der teilweisen Ersteinrichtung (...) 2. Die finanzielle
Ausstattung einer Förderstiftung für außeruniversitäre/selbstbestimmte
sexualwissenschaftliche und -politische Forschungsprojekte (...) Bei einer
für die Erfüllung dieser Aufgaben zu veranschlagenden notwendigen
Mindestausstattung von 1 Mio. DM jährlich müsste die Stiftung mit
ca. 20 Mio. DM ausgestattet werden. (...) 3. Zur Vorbereitung der notwendigen
weiteren Schritte muss die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft in den Stand gesetzt
werden, diese Arbeiten überhaupt leisten zu können. Benötigt
werden die laufenden Miet- und Sachkosten in Höhe von DM 15.000,
jährlich und die Finanzierung einer hauptamtlichen Geschäftsführung
(1 Stelle BAT Ia und 30h-Sekretariatsstelle BAT Va)." Überlebende
KZ-Häftlinge tauchen in dem Flugblatt logischerweise nicht auf, das sich
vor allem der Sicherung von Stellen und Sachmittel widmet und so tut, als
habe seit 1935 in Deutschland keinerlei Sexualforschung gegeben. Oder hat
man die individuellen Opfer etwa hinter dem Satz "Diese Stiftung könnte
bei Aufgabenerweiterung und entsprechender Ausstattung auch
als Trägerin weiterer Entschädigungen fungieren" zu vermuten?
Wohl kaum. Denn wenn, so hieße das letztlich, die einzigen, die überhaupt
mit Fug und Recht Wiedergutmachung beanspruchen dürften, ins zweite Glied
zu stellen.