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Deutschland, deine Kreuze

Kennst du diese Kirche? Die meisten Bochumer kennen sie nicht. Vor Jahren hatten Tauben, Gräser und schwindelfreie Büsche die arg lädierte Fassade des Kirchturms erobert, der sich, verbrannt und schwarz, gleich neben dem Rathaus gerade noch aufrecht halten konnte. Mitten in der Stadt, in Sichtweite von Einkaufscentern und Fußgängerzone, ein Ort, an dem man schnell vorbeihuschte. „Totalverlust – bis auf den Turm“ hieß es im Mai 1943 nach einem Luftangriff. Eher versehentlich hatten die Alliierten das richtige Gebäude getroffen. Die 1879 geweihte Christuskirche war Hort religiösen Nationalismus’. Vier Reichsadler prangten in der Eingangshalle des Turms. Dazu kamen, noch vor 1933, die Namen von knapp dreißig „Feindstaaten Deutschlands“, von denen es einige noch sind: Serbien, Kuba, Bolivien, Nikaragua, Ekuador, Brasilien, Guatemala, Haiti, Panama, Uruguay, Peru, China, Rumänien, Siam, Hedschas (heute Teil Saudi-Arabiens), Liberia, die Tschechoslowakei. Aber auch Honduras, Japan, Italien, Portugal, Rußland, Frankreich, Griechenland, England, Belgien – und sogar die USA.

Was verschlägt einen Schlagerstar an einen dermaßen finsteren Ort? „Die Sängerin Marianne Rosenberg erinnert mit einem Konzert in Bochum an ihre eigene Sinti-Familie und an das Schicksal der Roma in der NS-Zeit. Gemeinsam mit ihrer Schwester Petra Rosenberg und dem Gitarristen Ferenc Snétberger wird sie am 27. Januar in der Christuskirche zum ‘Tag der Befreiung von Auschwitz’ gastieren. Von den Rosenbergs kamen während der NS-Zeit 51 Familienmitglieder ums Leben“, hatte die örtliche Tageszeitung die Veranstaltung beworben – den Gedenktag in Anführungszeichen, ohne Hinweis auf das dort befreite Vernichtungslager. „Dies ist kein Konzert, sondern ein gemeinsames Gedenken“, hatte Pfarrer Thomas Wessel zu Beginn klargestellt und eindringlich gebeten: „Bitte heute Abend keinen Applaus.“

Noch vor ein paar Jahren sollte der Turm abgerissen werden, doch Denkmalschützer kämpften für dessen Erhalt als Mahnmal gegen den Krieg. Nachts ist er nun beleuchtet, eine große Glasscheibe ermöglicht Passanten den Blick auf das Mosaik mit den Feindstaaten im Inneren. Als ein Hauptprojekt der Kulturhauptstadt 2010 Ruhrgebiet wird der Künstler Jochen Gerz den Platz vor dem Turm zu einem Ort des europäischen Versprechens umgestalten. Das bewußt vom alten Turm abgesetzte, in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre gebaute Kirchenschiff gilt als architektonisches Meisterwerk und Vorbild für die Gedächtniskirche am Ku’damm in Berlin. Die Christuskirche heute will „keine Kulturkirche“ sein, sondern „Kirche der Kulturen. Ein protestantischer Ort für die Schönheit des Plurals und die Ästhetik der Migration.“ Ein Ort „für eine Stadt der Kulturen“, die „ihr Dunkel“ erinnere.

Für die Gedenkveranstaltung gab es keine Karten. Wer daran teilnehmen wollte, erhielt vom Pfarrer ein zweiseitiges Einladungsschreiben, das ausführlich auf die Geschichte der Familie Rosenberg einging. „Für die Olympiade 1936 sollte Berlin ‘zigeunerfrei’ sein. Familie Rosenberg wird in Berlin-Marzahn in eines der ersten kommunalen Zwangslager für rassisch Verfolgte gesperrt. Kurz vor seinem 16. Geburtstag sitzt Otto Rosenberg“ – der Vater von Marianne und deren älterer Schwester Petra – „in einem Zug voller Kinder“, schreibt Wessel, um dann aus Otto Rosenbergs Lebenserinnerungen „Das Brennglas“ zu zitieren. Die Kinder im Zug waren „fein gekleidet, mit Stullentäschchen und Mappen. Sinti-Kinder, Roma-Kinder, ich weiß es nicht. Süße Gesichter, alle so sechs, acht Jahre alt. So kam ich in Auschwitz an.“ Otto Rosenberg hat Auschwitz überlebt, Buchenwald, Dora und Bergen-Belsen.

Tochter Petra, die vom inzwischen verstorbenen Vater den Vorsitz des von ihm gegründeten Landesverbandes deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg übernahm, sagt: „Die, die überlebt haben, sind durch ihre traumatischen Erfahrungen so nachhaltig geschädigt worden, daß ihr Vertrauen in die bundesrepublikanische Gesellschaft gestört ist. Aber auch das Bewußtsein der zweiten und dritten Generation ist von der Erfahrung geprägt, Teil einer Minderheit zu sein, die von der völligen Vernichtung bedroht war und immer noch in hohem Maße unter Diskriminierung zu leiden hat.“ Abwechselnd mit ihrer Schwester trägt Petra Rosenberg an diesem 27. Januar in Bochum Passagen aus den Erinnerungen ihres Vaters vor. Die Stelle etwa, wo Otto Rosenberg geradezu lakonisch die zwei Meter hohen Leichenberge beschreibt, die sich jeden Tag in Auschwitz neben seiner Baracke auftürmen, als sei’s ein Haufen Schnee. Abends werden die Leichen abgeholt. Am nächsten Tag wächst wieder ein Berg empor. Marianne Rosenberg, die aus ihrer Autobiographie liest, sagt: „Der Leichenberg – ich bin mit ihm verwandt.“

Wie Pfarrer Wessel im Einladungsschreiben mitteilt, haben Petra und Marianne Rosenberg „sehr zurückhaltend reagiert, als ich sie darum bat, den Tag der Befreiung in der Christuskirche zu begehen. Die persönliche Erinnerung öffentlich zu machen ist ein schmerzhafter Schritt. Aber wer, wenn nicht sie könnte berichten? Wer, wenn nicht wir, könnte hören?“ Schließlich stimmten die Rosenbergs zu, einen würdigen Abend zu gestalten – gemeinsam mit Ferenc Snétberger, dessen den ermordeten Sinti und Roma gewidmetes Concerto „In Memory For My People“ genau drei Jahre zuvor im Haus der Vereinten Nationen in New York aufgeführt worden war. Die drei in Bochum Auftretenden wollten nicht, daß ihnen für den Abend ein Honorar gezahlt und Eintritt erhoben werde. Gut 800 Menschen aus dem gesamten Ruhrgebiet kamen, darunter Überlebende des Holocaust und ihre Familien.

Vor seinem Tod mußte Otto Rosenberg noch erleben, wie Unbekannte Hakenkreuze auf seine Haustür malten. „Blühendes Alptraumland/deine Kreuze an der Wand“, sang Marianne auf dem danach erscheinenden Album. „Sag, deine Vorfahren kommen aus Ungarn“, hatte der Vater der jungen Marianne beizeiten eingeschärft, „sonst kauft keiner deine Platten.“