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Nicht fummeln, Liebling

Es gibt Momente, da blitzt in Medien ungewollt historische Wahrheit auf. Die Kleine Zeitung aus Österreich berichtete am 23. November über den Prozeß gegen einen schwulen Mann in Graz. Schon der Vorspann ließ erahnen, daß die Zeiten zurückehrt sind, da Homosexuelle stets einen guten Anwalt haben sollten, am besten schon vor dem Coming out: „Sexspiele mit 14 holen einen unbescholtenen Mann zehn Jahre nach der Tat ein. Er zeigte sich geständig, dachte damals aber nicht, daß es strafbar sei. Er wurde verurteilt.“

Bekanntermaßen sind Freisprüche in Sexualverfahren recht selten geworden. Was der Korrespondent der Kleinen Zeitung dann unter der Headline „Sexueller Mißbrauch: Steirer vor Gericht“ schrieb, las sich darum erst einmal so: „Zu den abstoßendsten Delikten im Strafrecht gehören Sexualdelikte. Die Opfer sind oft ihr Leben lang traumatisiert. Die Strafen sind daher hoch, die Gerichte nicht bekannt dafür, daß sie Sexualstraftäter mit Samthandschuhen anfassen.“ Die saftige Einleitung diente offenkundig dazu, das Urteil beim Publikum später als weise und besonnen erscheinen zu lassen, denn es handelt sich um einen „Grenzfall in mehrfacher Hinsicht“, der „einen Schöffensenat am Landesgericht Graz unter Richterin Angelika Hacker“ beschäftigte. „Ein jetzt 25jähriger unbescholtener Techniker wird von einem Jugendfreund plötzlich sexueller Übergriffe beschuldigt. Zehn Jahre nach der Tat.“ Gemeinsames Wichsen verjährt eben nicht.

Solche Plots sind heute nicht mehr absurd, schließlich hat sich in Ländern wie Österrreich und Deutschland die Rechtslage entscheidend geändert. Was im Zeichen der Liberalität, gestützt auf international anerkannte sexual- und kriminalwissenschaftliche wie soziologische Erkenntnisse, noch vor Jahren selbstverständlich straffrei war, was Gerichte zu gewissen Zeiten allenfalls mit Achselzucken quittiert hätten, macht von gesunder Neugier getriebene Heranwachsende heute zu Schwerverbrechern. Folgerichtig nennt der Korrespondent der Kleinen Zeitung es nicht etwa straffrei, wenn Kinder unter vierzehn ihre Sexualität erkunden, sondern er nennt es „nicht gerichtsverwertbar“. Da schwingt Bedauern mit. Aber nicht für den Angeklagten, sondern für ein Gericht, das wegen der Gesetzeslage nicht sanktionieren kann, was es nach Ansicht der veröffentlichten Meinung vielleicht besser sollte: Kinder, die sich gegenseitig befummeln. „Nicht gerichtsverwertbar“ ist, was der nunmehr Angeklagte, damals als 13-Jähriger, in sexueller Hinsicht „monatelang mit seinem Freund getan“ habe.

Was genau zwischen den Jungs passierte, wird nicht mitgeteilt, sondern lediglich, daß die Nicht-Gerichtsverwertbarkeit am 24. August 1998 endete. An dem Tag gab’s keine Vergewaltigung, keinen Mord, nur eine Geburtstagstorte. „Da wurde der Angeklagte 14 und damit strafmündig. ‘Unerlaubte gemeinsame Entdeckung der Sexualität’ nennt sein Anwalt, was zwischen ihm (dem Angeklagten – Gigi) und seinem Nachbarn (11!) (Klammer und Ausrufezeichen im Original – Gigi) lief. Doch der Staatsanwalt nennt es ab dem 25. 8. ‘Verbrechen der Unzucht’ – und das umfaßte laut Gesetz alle sexuellen Handlungen außer Beischlaf und beischlafähnliche Handlungen.“

So also beginnen inzwischen kriminelle Karrieren: Gerade erst vierzehn, noch nicht richtig gepoppt, aber rechtlich schon ein Unzuchtsverbrecher. Keine fünf Wochen nach dem vierzehnten Geburtstag war aus dem Verbrechen für die Strafverfolgungsbehörden schon ein schweres Verbrechen geworden, ohne daß sich die „Tat“ selbst verändert hätte. Diesmal half das Staatswesen nach. Am 1. Oktober 1998 trat in Österreich das neue Sexualstrafrecht in Kraft. Damit drohte fürs Noch-nicht-gepoppt-Haben bereits eine mehrjährige Haftstrafe. „Plötzlich war das, was der Angeklagte tat, das ‘Verbrechen des schweren sexuellen Mißbrauchs’ mit einer Strafdrohung für Jugendliche (! – Gigi) von bis zu fünf Jahren“, erklärt das Blatt (www.kleinezeitung.at/steiermark/graz/graz/2212296/sexueller-missbrauch-steirer-vor-gericht.story).

Zur Erinnerung: Fünf Jahre Haft gab’s in Deutschland unter dem §175 noch für Erwachsene. Weshalb jetzt, da sich die Tarife etwas geändert haben, mancher Angeklagte aus dem Staunen nicht mehr herauskommt, wie der junge Mann in Graz. „’Ich fühle mich schuldig’, sagt er etwas verdattert vor Gericht. ‘Aber ich dachte nicht, daß das, was ich tat, strafbar war.’“ Warum empfehlen die Behörden aufmerksamen Eltern eigentlich nicht, für pubertierenden Nachwuchs rechtzeitig nach Beendigung der Grundschule das Abo einer juristischen Fachzeitschrift abzuschließen? Wahlweise das einer Jugendzeitschrift mit ausführlichem Aufklärungsteil eines sorgfältig arbeitenden Dr. Sommer-Teams, damit die Brut nach Jahren nicht auf die Idee kommt, die Justiz mit pubertären Angstphantastereien lahmzulegen?

In Graz jedenfalls hat die Staatsanwaltschaft laut Kleiner Zeitung „darauf verzichtet, weitere Übergriffe, die das Opfer mit teils medizinisch unmöglichen Details ausgeschmückt hat, in die Anklage aufzunehmen. Der Senat braucht nur Minuten für das Urteil: Schuldig. Fünf Monate Haft bedingt“ – also auf Bewährung. „Der Angeklagte nimmt das Urteil an. Er gilt damit strafrechtlich weiter als unbescholten. Ein Grenzfall.“

Wer derzeit für erotische Kinkerlitzchen mit einer Bewährungsstrafe davonkommt, kann sich immerhin schon rühmen, die ganze Gnade der Justiz erfahren zu haben.