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Emanzipation

Zum Glück blieb Carl von Ossietzky die Gedenkmatinee zu seinem 120. Geburtstag am 3. Oktober im Berliner Haus der Demokratie und Menschenrechte erspart. Mitveranstaltet von einem den Namen des jüdischen Pazifisten führenden Blatt, gipfelte sie in der Israel-feindlichen Brandrede eines Oberstleutnants der Münchner Bayern-Kaserne. Der hatte Israel in der Terminologie so berühmter Judenfreunde wie Ludendorff (1935) und Goebbels (18. Februar 1943) schon im Wochenblatt Freitag (18. August 2006) bescheinigt, einen „totalen Krieg“ gegen Libanon geführt zu haben. Dem Pazifisten zu Ehren deklarierte der aktive Soldat Jürgen Rose nun die einzige Demokratie im Nahen und Mittleren Osten, wo aus religiösen, politischen oder sexuellen Gründen in all ihren Nachbarländern Verfolgte Zuflucht finden, zur atomaren Gefahr für den Weltfrieden – und Iran, zu dessen Staatsdoktrin die Auslöschung des jüdischen Staates samt Staatsvolk gehört, der Jugendliche wegen homosexueller Handlungen und Frauen wegen Ehebruchs öffentlich hinrichten läßt, zum Opfer Israels und seiner Schutzmächte. Politisch auch nur halbwegs auf Höhe der Zeit, weiß man, daß sich der moderne und insbesondere der „linke“ Antisemitismus gewöhnlich des Etiketts „berechtigte Israel-Kritik“ bedient und verläßt den Spuk.

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Im Bus ziehe ich ein im Saal verteiltes Flugblatt aus der Jacke: „Achtung Jugendgewalt: Edelweißpiraten!“ Aha. „Montag, 5. Oktober 2009, 20 Uhr, Gim Gim, Adalbertstraße 79.“ Die Veranstalterliste: Arbeitskreis Marginalisierte – gestern und heute, Naturfreunde Berlin sowie VVN-BdA ließe ein würdiges Kontrastprogramm zum soeben Erlebten erwarten, ... wäre da nicht diese Bildzeile. „Köln-Ehrenfeld, untergetauchte Fremdarbeiter und Edelweißpiraten werden öffentlich gehenkt, Dezember 1944.“ Gleich daneben: „Eine vergnügliche szenische Lesung des Emanzipationshistorikers und Schriftstellers Helmut G. Haasis.“ – „Fremdarbeiter“ ohne Anführungszeichen und die öffentliche Hinrichtung Minderjähriger als heiterer Abend?

„Ich bin des Hochdeutschen nicht mächtig“, entschuldigt sich am Montag abend kurz nach acht der ergraute Wirrschopf im rostroten Karohemd bei rund dreißig Gästen im „Gim Gim“. „Meine Vatersprache war Schwäbisch.“ Seine folgende „Erzählung über eine Arbeiter-Jugendbewegung gegen die Nazis“ sei in den 80er Jahren in der Reihe „Packpapier“ eines Verlags erschienen, „der sonst Müsli verkaufte“. Historische Kölner Ereignisse habe er darin nach Mannheim verlegt, denn entstanden sei sein Text ursprünglich für eine Lesung in einer dortigen Berufsschule, vor künftigen Schreinern und Bauarbeitern. Ihretwegen habe er sich um eine schlichte Sprache bemüht. – So für doof erklärt, hätte ein selbstbewußter Arbeiter ordentlich auf den Tisch gehauen. Aber es sind wohl keine Arbeiter im Raum.

Klischeehaft bis ins Peinliche und grob zeichnet Haasis seine Figuren: den zur Beförderung ausersehenen Post-Fernmeldetechniker Alfred Kriwitzki, der vom Verfassungsschutz auf seine „Haltung zur Gewalt“ überprüft wird, und den Spitzel namens, haha: Adolf. Nachname, hahaha: Bleibtreu. Aus Kriwitzkis Gestapo-Akte weiß der Schleimer, daß dieser vor 1945 schwerste Straftaten, er nennt sie „Terrorakte“, begangen hat. Und zwar als Mitglied der Edelweißpiraten, die in den 70er Jahren immer noch wie gewöhnliche Schwerkriminelle betrachtet statt als Widerstandsgruppen geehrt und rehabilitiert werden. „Mit ihnen konnte niemand was anfangen“, sagt Haasis, denn: „Sie waren in keiner Partei, begannen nicht mit politischer Bildung, haben nicht in Zellen gearbeitet. In ihrem Selbstgefühl entstanden sie erst durch ihre Behinderung durch die Nazis.“ Eine Vergangenheit holt Kriwitzki ein, von der weder seine Frau noch seine arrivierten Söhne ein Wort hören wollen. Nur gegenüber seiner Tochter kann er sich endlich lang Verdrängtes von der Seele reden: die verbotenen Gruppenausflüge ins Grüne, die kurzen engen Hosen, karierten Hemden und Halstücher anstelle der HJ-Uniform, das erfolgreiche Verprügeln von SA-Trupps, die Solidarität mit Zwangsarbeitern, die Erinnerungen an Razzien, Folterkeller, Jugend-KZ und Hinrichtungen.

Es kann nicht allein am koketten Schwäbeln liegen, daß oft unklar bleibt, auf welcher Zeitebene Haasis gerade plaudert. Holprig vorgelesene Textauszüge und unsinnige pädagogische Fingerzeige, die er wohl für ironisch hält, verlieren sich zwischen Köln 1943 und Mannheim 1978, zwischen Post-Nazi-BRD, Radikalenerlaß und schäubleschem Sicherheitswahn. Gestik und Diktion des als szenisch Mißverstandenen wirken grotesk überzogen und laienhaft. Die Konzeptlosigkeit rückt – man hofft ungewollt – die Gewalt derart in den Vordergrund („Die Edelweißpiraten waren ja keine Waisenknaben!“), daß sie als politisch motivierte Antwort auf eine mörderische Repression kaum mehr zu erkennen ist. Haften bleibt eine „wilde Jugendgang“, in der anständige Jungproletarier ihre Rauflust rein zufällig an den Richtigen austoben und nebenbei „mit Mädels anbändeln“ konnten – und nicht etwa mit anderen Lederhosenjungs, was in der gesamten Wandervogelbewegung und Bündischen Jugend üblich und den Nazis Anlaß zu verschärfter Verfolgung war.

Nach einer Stunde haben Haasis und sein Bärendienst an den Edelweißpiraten all mein Wohlwollen aufgezehrt. Er selbst immerhin hat viel gelacht – über seine eigenen Witze.