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Nicht aus Teig

Vorratsdatenspeicherung, Internetzensur, Sicherheitsgesetze – was sagt eigentlich die FDP dazu? In der zehn Kilometer von der deutsch-niederländischen Grenze entfernten 8.000-Einwohner-Gemeinde Wachtendonk ist Alexander Alvaro auf Kurzbesuch, innenpolitischer Sprecher der Liberalen Fraktion (ALDE) im Europäischen Parlament. Es sei ja Wahlkampf, auch wenn das kaum einer wisse, begrüßt er das knappe Dutzend Interessierter im Gasthaus Büskens. Für seinen Vortrag „Das Ende der Privatsphäre – auf dem Weg in den Sicherheitsstaat?“ reicht ein muffiges Zimmer von der Größe einer Abstellkammer. Kein Glücksgriff der veranstaltenden Friedrich-Naumann-Stiftung.

Kaum hat Alvaro das Wort erhalten, stehen Fragen im Raum, die ans Eingemachte gehen. Bei der Europa-Wahl am 7. Juni müsse erneut von einer geringen Wahlbeteiligung bei um die dreißig Prozent ausgegangen werden. „Man fragt sich, ob man da überhaupt noch demokratisch legitimiert ist.“ Sind das echte Versagensängste eines Mitglieds im FDP-Bundesvorstand oder nur taktische Zaudereien eines Juristen und Deutsche-Bank-Mannes, der erneut in eine Volksvertretung strebt?

Seit 2004 im EU-Parlament, sitzt Alvaro dort in einem Gremium, das, wie er betont, ausdrücklich die Verteidigung bürgerliche Errungenschaften in Namen führe: dem Ausschuß für bürgerliche Freiheiten (Plural!), Justiz und Inneres. Auf seiner Website bekennt sich Alvaro zu einem „humanistischen Liberalismus, der ökologisch und sozial verpflichtet ist“. Liberalismus sei überdies „nicht nur ein politisches Konzept“, sondern „auch Lebensgefühl und Orientierung“. Alvaro will „eine lebensbejahende, pluralistische Gesellschaft, die von Toleranz, Miteinander und der Achtung der Menschenwürde geprägt ist.“

Was der FDP-Bürgerrechtler nicht will, ist Thema dieses lauen April-Abends. In einem einstündigen Parforceritt durch die aktuelle Sicherheitspolitik rattert er deren schillernste Highlights herunter. „Durch die EU-weite Vorratsdatenspeicherung werden die persönlichen Kontaktdaten von 500.000 Millionen Menschen festgehalten“. Als sei das nicht schon fragwürdig genug, verhandele die EU-Spitze gerade „am EU-Parlament vorbei“ mit den US-Zollbehörden über neue Reisebestimmungen.
Manches, was Alvaro beschreibt, kennt man aus den Nachrichten, von anderen höchst bedenklichen Vorgängen hat man dagegen bislang wenig gehört. Globale und sogar mittelständische Unternehmen in Deutschland etwa seien verpflichtet, Daten aller Auslandskunden mit insgesamt sieben internationalen Terror-Dateien abzugleichen. Andernfalls läßt der Zoll die Ware nicht durch. „Ganz nebenbei: So ziemlich jeder Finanzbeamte kann auf Ihre Kontodaten zugreifen.“ Spätestens jetzt ist das Publikum elektrisiert.

Alvaro hat etliche Beispiele parat, wie in der EU derzeit Bürgerrechte eingeschränkt werden. In Tschechien beispielsweise verbietet ein Gesetz Journalisten, regierungskritische Berichte ins Netz zu stellen. In Italien wollte die Regierung Besucher von Internetcafés verpflichten, sich auszuweisen. Als das halbe Land daraufhin die Cafés boykottierte, machte die Regierung einen Rückzieher. Allen Erwachsenen aus der Volksgruppe der Roma nahmen die Behörden unterdessen Fingerabdrücke ab. Da sich kindliche Fingerabdrücke noch verändern, mußten von Roma-Kindern Fußabdrücke her. Roma dürfen sich im Land ohnehin nicht frei bewegen, und daß will kontrolliert werden. Schweden überwacht die komplette Grenzüberschreitende elektronische Kommunikation, dabei habe das Land, so Alvaro sichtlich indigniert, „eine liberale Regierung“. London verfüge über die höchste Dichte von Überwachungskameras und zugleich über die höchste Kriminalitätsrate“. Für Alvaro ein überzeugender Beleg dafür, daß Videoüberwachung gegen Kriminalität nicht viel ausrichtet.

Unter Berufung auf die liberale britische Wochenzeitung The Economist schildert Alvaro den Einsatz von Polizei-Flugdrohnen, die in einer Höhe von fünfzig Metern über Demonstrationen kreisen. „Inzwischen enthalten diese Flugdrohnen Behälter in denen sich gentechnisch verändertes Wasser befindet.“ Das könne bei Bedarf versprüht werden und hinterlasse Spuren, „die nicht abgewaschen werden können“. In Passagierflugzeugen sollen künftig Minikameras in die Sitze eingebaut werden, um das Minenspiel in den Gesichtern der Passagiere zu beobachten. Mikrofone sollen zudem jedes verdächtige Wort der Passagiere aufzeichnen – weil Terroristen nach Erkenntnis der Behörden eine Sure des Korans murmeln, bevor sie Flugzeuge in die Luft sprengen. „Die Erprobungsphase für solche Einbauten ist bereits abgeschlossen.“ Dazu fällt Alvaro schließlich der grüne Spitzenpolitiker Cem Özdemir ein. Der sei unlängst bei der Ankunft in einem US-Flughafen festgehalten worden. Verdächtig gemacht hatte Özdemir die Tatsache, daß er Moslem und Vegetarier ist und daß der Flug nicht vom Passagier selbst bezahlt wurde.

Die vielgepriesene DNA-Analyse gilt Alvaro zu unrecht als sicher. „Statt neun möglichen werden bei der DNA-Analyse nur sechs Referenzpunkte verglichen, was eine hohe Fehlerquote zur Folge hat. DNA-Analysen haben vor Gericht Beweiskraft. Im Zweifel sind Beschuldigte in der Situation, gegen angeblich sichere Belege beweisen zu müssen, eine Tat nicht begangen haben. Das dürfte nicht ganz einfach sein.“ Zu mehr Vorsicht rät Alvaro auch bei der Fahndung nach Kinderpornographie im Internet. Ein Fall aus den Niederlanden zeige, wie leicht Unschuldige in Verdacht geraten könnten: In einem Ort, wo jeder jeden kenne, hätten die Behörden einen Mann verhaftet. Nach einem Jahr der Ermittlungen stellte sich heraus, daß die Polizei bei Eingabe der verdächtigen der IP-Adresse einen Zahlendreher ins System getippt hatte, das daraufhin den falschen Computerbesitzer ermittelte. Da hatte der Mann längst Frau und Job verloren und konnte sich im Ort nicht mehr blicken lassen.

„Unsere Gesellschaft ist bürgerrechtsfaul geworden“, sagt Alvaro. „Es ist möglich, jeden Bürger vom Aufstehen bis zum Ins-Bett-Gehen zu überwachen – und im Zweifel darüber hinaus“, sagt der EU-Parlamentarier, der sich auf seiner Homepage nicht als offen heterosexuell zu erkennen gibt. Die eingeführten Sicherheitsmaßnahmen seien jede für sich vermutlich begründbar und im Einzelfall möglicherweise zu rechtfertigen. Es sei jedoch „die Summe der Maßnahmen, über die man sich Gedanken machen muß.“ Die Mehrheit der EU-Abgeordneten könne kaum überblicken, welche Folgen Gesetze mitunter haben, die sie beschließen. „Von den 785 Abgeordneten des EU-Parlaments wissen vielleicht eine Handvoll, daß Cookies nicht aus Teig bestehen.“

Klingt das wie ein Seufzer der Hoffnungslosigkeit? Alvaro endet mit den Worten: „Wir müssen wachsam sein.“