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Christenporno


Vor zweihundert Jahren, am 15. Oktober 1808, kam in Leipzig Daniel Gottlob Moritz Schreber zur Welt. Dem gottesfürchtigen Arzt zu Ehren adelte man drei Jahre nach seinem Tod die berühmten städtischen Kleingartenanlagen mit seinem Namen. Hatte der Universitätslehrer doch ob der auch körperlich sichtbaren Verelendung der urbanen Jugend deren Ertüchtigung in „Armen- und Specialgärten“ angeregt, es allerdings nicht bei der klassischen Gesundheitsfürsorge belassen. Gesundheit galt ihm auch als Willensfrage. Wenn die Natur nicht hergab, was die Gesellschaft erwartete, wenn jemand nicht funktionierte oder funktionieren wollte, sollte er notfalls gezwungen werden: sei es durch autoritäre Erziehung oder von Schreber konstruierte Fixiergestelle zur korrekten Rückenlage im Bett, zur aufrechten Sitzhaltung bei Tisch oder zur Vermeidung eines Überbisses. Zudem war Schrebers Ansatz „ganzheitlich“, nahm also auch jene ins Visier, die in Dressuranstalten als „sittlich verwahrloste Kinder u.s.w. zu erblicken sind“, wie er 1858 in seiner „Kallipädie“ schrieb. Er erprobte Instrumente zur Unterbindung der kindlichen Selbstbefriedigung und empfahl Jugendlichen zur „gesunden Triebabfuhr“ Axthauen und Sägebewegungen, kalte Sitzbäder und Einläufe vor dem Zubettgehen oder auch das Abreiben der Schamgegend mit Eiswasser. In abgelegenen Bergdörfern soll derlei noch vorkommen, Geröll zu Mauern stapeln etwa, aber im wesentlichen ist es aus der Mode.

Nicht aus der Mode kam dies: „Sexualität hat auch ganz viel mit Verantwortung zu tun, mit Respekt, mit Bindung, Mitmenschlichkeit, Reife und – mit Liebe.“ Es war eine der zivilisatorischen Leistungen des 20. Jahrhunderts, die menschliche Sexualität von all dem ideologischen Ballast an „Bindung“ (sprich: Ehe), „Liebe“ und „Verantwortung“ zu entrümpeln und die sogenannte Reife als große Lüge zu entlarven: Jeder Mensch ist von Geburt an reif für sexuelle Lust, unreif macht ihn allenfalls die herrschende – in unseren Breiten christliche – Moral.

Als deren Sachwalter sehen sich Bernd Siggelkow, der Gründer des evangelischen Kinderprojekts „Arche“ im atheistischen Berliner Bezirk Hellersdorf, dessen spendenträchtige Geschäftsidee „religiöse Hirnwäsche gegen warme Mahlzeit“ heißt, und sein PR-Agent Wolfgang Büscher. Ihr Synonym für Schrebers „sittlich“ ist „sexuell“, und umzingelt von „sexuell enthemmten“ Kindern aus „sozial schwächeren Familien“ (und nicht etwa ärmeren) erheben sie „die um sich greifende sexuelle Verwahrlosung in unserem Land“ zur nationalen Katastrophe, die „in den nächsten Jahren zu einer Zunahme von psychischen Erkrankungen führen“ werde. „In zehn Jahren“ würden „Tausende von Erwachsenen in unserem Land leben, die alle Formen der sexuellen Perversion ‘durchhaben’, deren Seelenleben auf der Strecke geblieben ist“. „Deutschlands sexuelle Tragödie“ nannten sie ihr zweites Buch und wollen, daß „unsere Kinder wieder ins Blickfeld kommen“. – „Unsere“, weil die nicht sich selbst gehören, sondern der christlichen Werte- und Volksgemeinschaft in persona Mutter Kirche und Vater Staat.

Der Untertitel lautet „Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist“. – Ja, was dann? Dann kann gerade fehlende Liebe sie zumindest nicht am frühzeitigen Sex hindern. Lust um der Lust willen ist aber Sünde! Schlimmer noch: „Bei unseren Recherchen haben wir festgestellt, daß auch Jugendliche von der sexuellen Tragödie betroffen sind, die aus besseren finanziellen Verhältnissen kommen.“ Bezeichnend ist, wie da „recherchiert“ wurde. Die dreißig redundanten, wie Fälle geschilderten Sittenbilder basieren auf „Äußerungen vieler Kinder und Jugendlicher im alltäglichen Geschehen in der Arche“, auf „Berichten von Erzieherinnen der Einrichtung sowie der Sozialpädagogin, die im Auftrag der Arche viele Familien besucht. Darüber hinaus wurden im Rahmen der Recherche mit verschiedenen Jugendlichen persönliche Gespräche geführt.“ Im Klartext: Die Schäfchen wurden unter dem Vorwand christlicher Nächstenliebe ausgehorcht, ihr Familien- und vor allem Sexualleben samt dem ihrer Eltern bis in intimste Details ausspioniert, um es dann in einem Buch zu skandalisieren (die Namensanonymisierung ist bei genauer äußerer Personenbeschreibung ein Witz). Da heiligt der pastorale Zweck die Mittel bis an den Rand der Legalität. Beispiel Seite 148: „Kürzlich haben wir übrigens in der Arche einen Brief gefunden, der an Rico gerichtet war. Er stammte von seiner nicht einmal 10 Jahre alten Freundin. ‚Du kannst mit mir machen, was du willst’, schrieb das Mädchen ihm darin. Das Kind beschrieb in diesem Brief auch sexuelle Dienstleistungen, mit dem (sic!) es ihn glücklich machen wollte. Wir konnten kaum glauben, was wir da lasen.“ – Aber hatten tolle Ständer, als wir Briefgeheimnis und Ricos Intimsphäre verletzten?

„Diese Geschichten wollen nicht voyeuristischen Zwecken dienen, sie sollen lediglich das Ausmaß der Tragödie deutlich machen.“ Was könnte besser untermauern als das verlogene präventive Dementi, daß die „Recherche“ dem Prinzip Beichtstuhl folgt: Der Pfarrer setzt die kleinen Sünder geschickt unter Druck: „Hast du dich berührt oder befleckt, mein Sohn? Hattest du unkeusche Gedanken? Du mußt dir alles von der Seele reden!“ Gott zum Wohlgefallen ergibt das spritzig-juvenile Unterleibsporträts, schweres Atmen und – Heiteres Beruferaten mit Robert Lembke! – typische Handbewegungen unter der Soutane. Denn hier wie da entsteht im Kopf unwillkürlich in 3D-Großaufnahme und Dolby-Surround, was der Staatsanwalt heute Kinderporno nennt.

Sexismus kennzeichnet – neben jeder Menge ideologischem Dünnpfiff – zwangsläufig ein Werk, das Frauen die tradierte Rolle der Erzieherin zuweist. Logisch, daß durchweg schon die Mütter der Porträtierten als „sexuell verwahrlost“ abgestempelt werden. So wie die von „Jessi“: „Begehrt zu werden ist für sie wichtiger als alles andere, auch als arbeiten.“ Die Mutter von „Viktor“ wagte es gar, „umzuziehen, damit sie ihre Ruhe hatte“ vor der Einmischung in ihr Privatleben. „Wir haben jetzt schon eine Weile nichts mehr von Viktor gehört.“ Wie holten die Arche-Typen dann eigentlich das Einverständnis von Mutter und Sohn zur Verwurstung ihres Intimlebens ein?

„Als persönliche Freunde bezeichnet Bernd Siggelkow inzwischen die Chefs der Fernsehsender RTL und Pro 7 sowie Bild-Chefredakteur Kai Diekmann“, so die taz in einer Reportage am 13. Dezember 2007 und zitierte Siggelkow: „Denen geht es nicht um große Schlagzeilen – sie sind überzeugt davon, daß wir das Richtige tun.“ – Derart überzeugt, daß Diekmann am 31. Oktober 2008 wider die „sexuelle Verwahrlosung“ die Fragmente des „heißesten Romans des Herbstes“ von Rebecca Martin in sein Blatt hievte, sprich: detaillierte Sexualpraktiken einer „Berliner Schülerin (18)“.