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Olympische Geister


China ist im Wandel. Nichts Neues in europäischen und nordamerikanischen Journalen. Von „Morgendämmerung in der verbotenen Stadt“ schrieben englische und amerikanische Reisende schon 1840. Doch seit damals hat sich viel verändert: China ist nicht mehr der dankbare Abnehmer von Industrieschrott aus Liverpool, Essen oder Chicago, sondern ein ebenbürtiger Konkurrent auf dem Weltmarkt. Oder anders formuliert: Bis ins Jahr 1800 waren China und Indien die größten Wirtschaftsproduzenten weltweit, das europäisch-nordamerikanische Interludium geht einfach zu Ende.

Angesichts solcher Veränderungen nehmen hiesige Beobachter leicht das Rollenverhalten an, das im ausgehenden 19. Jahrhundert den Aristokraten des untergehenden chinesischen Kaiserreiches eigen schien: Jeder Brosamen, der vom Gabentisch der Mächtigen kullert, wird sogleich als politisches Signal zur Öffnung und Liberalisierung des Landes interpretiert. Erleichtert wird den chinesischen Offiziellen die PR-Arbeit dadurch, daß kaum einer der vielschreibenden Journalisten hierzulande der chinesischen Sprache und Schrift mächtig ist. Praktischerweise ist die hiesige Sinologie auch noch in weiten Teilen auf Übersetzungsarbeiten vorweltlicher Texte konzentriert, während eine immer größere Öffentlichkeit gern das wahrnimmt, was als „typisch chinesisch“ daherkommt. Denn China steht für Magie, Geheimwissen, Gesundheit, traditionelle Chinesische Heilkunde, Naturverbundenheit und Freiheit von westlichen Denkschemata. All das, was in den vergangenen Jahrhunderten auf Indien projiziert wurde, wird heute mit China identifiziert. Schon 1903 kritisierte der in Tübingen lehrende Richard Garbe, der Blick in den Fernen Osten sei „häufig weniger wirkliche Wißbegierde als eine phantastische Neugier, die am liebsten durch sentimentale Schilderungen befriedigt sein will“.

Mit dem Kolonialistenblick und durch die Brille der offiziellen Vertreter der Volksrepublik wird nur das gesehen, was man sowieso schon vorher weiß oder wissen will. Gelegentlich blitzt einmal die Kritik durch, wenn von Tibet, Landflucht, Umweltkatastrophen die Rede ist oder Umsiedlungen im Dreischluchtendammtal. Da wird dann ein heimatvertriebener Ayatollah im buddhistischen Mönchsgewand zum Friedensapostel gekürt, obwohl eigentlich bekannt sein müßte, daß die Herrschaft des Dalai Lama eine mittelalterlich-feudalistische Klerikaldiktatur war, in der die Menschen an einfachsten Krankheiten und Hunger starben und deren Führungskaste sich mit Waffengewalt gegen die Bodenreform zugunsten ihrer land- und besitzlosen bisherigen Leibeigenen wehrte – großzügig finanziert von der selbstlosen Menschenrechtsorganisation CIA. Aber da das „Schmunzelmonster“ sich besser verkaufen kann als uniformierte chinesische Offizielle, die gar nicht leugnen, daß die von ihnen erbauten Krankenhäuser und Straßen auch einer Enttibetisierung Tibets dienen, können empörte westliche Konsumenten nun China verurteilen, dort gleichzeitig preiswerte Produkte ordern und jeden Wunsch nach kultureller Autonomie von Minderheiten an weniger fotogenen Orten der Welt (zum Beispiel von Slowenen in Kärnten oder Sinti/Roma auf dem Balkan) ablehnen.

Doch jenseits von Olympiatraum und der glitzernden Metropole Schanghai offenbart sich dem interessierten Beobachter ein zerrissenes Land, dessen Herrschaftsclique sich gern westlicher Methoden bedient, um das zu sichern, was man als offizielles China verkauft. Da helfen bisweilen auch schwule Journalisten, die mit „Mantours“ auf vorolympische Promotion-Tour durchs Land geschleust werden. Es sei denn, ihre ja durchaus informativen Berichte werden, wie in unserem Heft, in einen eher distanzierten Gesamtkontext eingebettet und so der Gefahr enthoben, als ganze Wahrheit zu gelten. Sie zeigen Facetten, persönliche Eindrücke, winzige Ausschnitte aus einem riesigen Land mit komplexen, oft irritierenden Gesellschaftsstrukturen und drastischen Widersprüchen: mehr nicht.

Die vielschichtige Historie von Sexualitäten im vorrevolutionären China und die Austilgung des Wissens um die eigene Geschichte in der gnadenlosen Kulturrevolution bleiben da häufig auf der Strecke. Wie schwer sich die Volksrepublik bis heute mit sexueller Devianz tut, zeigt der verschwiemelte und zögerliche AIDS-Diskurs. Wie gern vorgestrige westliche Denkmuster in China rezipiert werden, ließe sich an den Debatten um Eugenik und Erbbiologie erkennen. Allein, hierzu bedürfte es der Kenntnis der chinesischen Sprache oder eines Blickes in Zeitschriften und Bücher, welche von Forschern herausgegeben werden, die nie und nimmer von der chinesischen Regierung eingeladen würden. Doch wer wollte es sich mit den Herrschern der Welt in spe verderben, die günstigerweise so schön antiamerikanisch auftreten? Das moderne China ist in mancher Hinsicht für hiesige Intellektuelle interessant und ermöglicht vielen in ihrer Nische sicheren „Systemkritikern“ ein Engagement für und gegen Dinge, von denen sie keine Ahnung haben, ohne die Konsequenzen ihrer Ignoranz fürchten zu müssen.