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Daten mit Sexappeal


Die „EU will Bürger auch zum Sex befragen“ informierte die Neue Ruhr Zeitung am 22. November über eine „total chaotische Sitzung“ in Brüssel sowie eine „politische Verzweiflungstat“ gegen die EU-Kommission in Sachen Zensus 2011. „Was im deutschen Volkszählungsjahr 1987 noch bundesweite Boykott-Initiativen auslöste, ist heute ein Randthema, wenngleich aber noch gut für eben jene ‘Verzweiflungstat’. Diese beging im EU-Parlament gestern die federführende Politikerin, die Litauerin Ona Jukneviciene, nachdem der britische EU-Abgeordnete Derek Clark sich empörte, das Sexualleben der Frauen würde ausgehorcht. Denn das geplante EU-Volkszählgesetz verlange ‘Auskunft, an welchem Datum eine Britin zum ersten Mal Geschlechtsverkehr hatte’. Die deutsche Übersetzung der Gesetzesfassung klingt zwar dezenter, aber die Litauerin, ebenfalls entzürnt, strich daraufhin die gesamten ‘freiwilligen’ Fragen zu ‘Patchwork-Familien’, Eheleben, Bildungsabschlüssen, Religion, Monatslohn, Arbeitszeiten und anderen persönlichen Merkmalen radikal aus dem Gesetzestext.“ Es sei „schockierend, wenn Bürokraten der EU-Kommission einen Fragenkatalog entwerfen, der detailgenaue Auskunft über erste Liebesbeziehungen, alle Schulabschlüsse oder sämtliche ‘freiwilligen Tätigkeiten’ abfragt. Angeblich, um genauer über die Europäer Statistiken anzulegen, Wohnungsbau zu planen und Sozialpolitik zu gestalten“, kommentierte NRZ-Korrespondent Peter Sennenkamp und warnte vor dem behördlichen „Anzapfen“ höchst privater Informationen: „Finger weg vom Daten-Irrsinn!“

Tatsächlich erhofft die EU-Kommission laut Verordnung vom 23. Februar 2007 vom Zensus 2011 ein „detailliertes Bild von Struktur und Merkmalen der Bevölkerung“. Der zielt zwar auf „verläßliche“ und EU-weit „vergleichbare Daten zur Wohnsituation der Bevölkerung“, in dem Papier ist jedoch auch von nicht näher bezeichneten „Kontrollzwecken“ im „politischen Bereich“ die Rede. Die Daten könnten von der Politik „direkt verwendet“ werden, „z.B.: Wieviele Personen sind von einem bestimmten Problem/einer bestimmten Maßnahme betroffen?“

Daß an der zumeist nur als „Wohnungszählung“ deklarierten Volksbefragung etwas faul sein könnte, schwante am 3. Dezember dem vom Bundestag herausgegebenen Wochenblatt Das Parlament: „Die Aufregung im (Brüsseler – Gigi) Ausschuß war so groß, daß die zuständige Berichterstatterin Ona Jukneviciene (Liberale) aus Litauen kurzerhand den gesamten Fragekatalog zu den freiwilligen persönlichen Angaben im Rahmen der Volkszählung strich.“ So sollten die Befragten ursprünglich etwa „freiwillige“ und „wahrheitsgemäße“ Angaben zur ersten und aktuell bestehenden Ehe machen, unverheiratete Frauen das „Datum des Beginns“ aller ihrer nichtehelichen Lebensgemeinschaften, den „De-facto-Familienstand“ und allerhand mehr angeben: Hauptquelle des Lebensunterhalts, Lese- und Schreibkompetenz, Computerkenntnisse, Auslandsaufenthalte plus Dauer, ethnische Zugehörigkeit, Sprache, Telefon- und Internetanschluß und sogar die „Verfügbarkeit eines Parkplatzes“.

Bei so viel Wissensdurst würden Fragen nach dem ersten Sex kaum überraschen, indes saß der britische EU-Abgeordnete Clark wohl einem kleinen Fehler auf: „In der englischen Übersetzung des Kommissionsvorschlags war vom Datum der ersten und letzten ‘consensual union’ von Frauen die Rede, wörtlich übersetzt soviel wie ‘einvernehmliche Vereinigung’“, womit die EU-Kommission das Zusammenleben unverheirateter Paare, nicht das Sexualverhalten der Europäerinnen meinte. „‘Nichteheliche Lebensgemeinschaften’ heißt es denn auch in der deutschen Version des Textes“, so Das Parlament. Aus dem Bericht kippte die erboste Jukneviciene dennoch sämtliche Fragen zu (Wahl-)Verwandtschaften wie „Gleichgeschlechtliche Partnerschaften“, „Typ der Patchworkfamilie“, „Typ der Großfamilie“ und „Generationenzusammensetzung der privaten Haushalte“. Nach Willen des Sozialausschusses soll die Befragung nur die allgemeine Zahl homo- und heterosexueller Partnerschaften ermitteln dürfen, denn: „Soziale Charakterisierungen müssen die Daten auf der Grundlage der derzeit gesetzlich anerkannten Beziehungsformen auslegen.“ Mit anderen Worten: Formen des Liebes- und Zusammenlebens, die die Staaten rechtlich nicht anerkennen, gehen die Behörden auch nichts an. Im übrigen mahnte der Ausschuß, die EU-Kommission solle doch bitteschön die „Anforderungen des Datenschutzes erfüllen“ – die Kommission hatte daran nämlich mit keiner Silbe gedacht.

Für die erneute Verhandlung des Berichtes am 10. Dezember hatte Das Parlament „heftige Debatten“ vorausgesagt. „Eigentlich sollte der Bericht diese Woche abgestimmt werden. Auf Druck der Grünen Fraktion ist es ... gelungen, ihn zu vertagen. Gestern Nacht gab es lediglich eine Debatte im Plenum zu dem Bericht“, teilte mit berechtigter Genugtuung das Büro der grünen Abgeordneten Elisabeth Schroedter am 11. Dezember auf Gigi-Anfrage mit. Als einzige deutsche EU-Abgeordnete hatte Schroedter explizite Kritik am geplanten Zensus geübt. „Persönliche Daten haben weder den Staat noch die EU zu interessieren.“ Es sei „ein Riesenerfolg für den Datenschutz“, daß „dieses hochsensible Dossier nicht einfach durch das Parlament gewunken“ werden konnte. Die Vertagung müsse nun genutzt werden, „Mehrheiten für den Vorschlag zu gewinnen, den von der Kommission vorgeschlagenen freiwilligen Befragungsanhang komplett zu streichen.“ Teile der im Kommissionsvorschlag formulierten Fragen, wie beispielsweise zur Familiensituation, lägen ohnehin außerhalb der EU-Kompetenz.

Unterdessen warnte das Internetblog Ondamaris am 12. Dezember vor den „Sex-Schnüfflern“ bei der EU: „Sie haben Sex? Sie leben in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung? ... Sie haben wegen Ihrer HIV-Infektion ... einen Schwerbehinderten-Ausweis? Sie engagieren sich ... ehrenamtlich in einer Schwulengruppe, einer Aids-Hilfe? ... Gründe, warum die EU-Volksbefragung Sie interessieren könnte!“ Viel Zeit, öffentliches Interesse zu wecken, bleibt indes nicht. Wie das Berliner Verbindungsbüro des Europäischen Parlaments am 14. Dezember gegenüber Gigi wissen ließ, wird „das Plenum des EP voraussichtlich im Januar 2008 über den Bericht des Ausschusses debattieren und entscheiden“.