Hokuspokus
Nicht nur
in den Bauernhäusern, sondern auch in den Wolkenkratzern der Städte
lebt neben dem zwanzigsten Jahrhundert heute noch das zehnte oder dreizehnte.
Hunderte Millionen Menschen benutzen den elektrischen Strom, ohne aufzuhören,
an die magische Kraft von Gesten und Beschwörungen zu glauben. Der römische
Papst predigt durchs Radio vom Wunder der Verwandlung des Wassers in Wein.
Kinostars laufen zur Wahrsagerin. Flugzeugführer, die wunderbare, vom
Genie des Menschen erschaffene Mechanismen lenken, tragen unter dem Sweater
Amulette. Was für unerschöpfliche Vorräte an Finsternis, Unwissenheit,
Wildheit!
Ein Menschenalter reichte
nicht, jene unerschöpflichen Vorräte zu schmälern, die Leo
Trotzki am 13. Juli 1933 in der exilierten (Neuen) Weltbühne beklagte.
Ganz im Gegenteil, größer denn je erscheint im dritten Jahrtausend
der Bedarf an übersinnlicher Beglückung wider die rauhe Wirklichkeit.
Der Esoterikbereich macht 18 Milliarden DM Umsatz im Jahr
in Deutschland, so der damalige Sektenbeauftragte der Unions-Fraktion Klaus
Holetschek am 28. Januar 2000 im Bundestag. Eine viertel Milliarde
davon sollen die rund 10000 haupt- und nebenberuflichen Wahrsager und Handaufleger
einnehmen oft bar (und unversteuert) auf die Hand, untersetzte
der Journalist Nikos Späth diese Zahl am 24. Mai 2004 in der
Welt am Sonntag. 150 Millionen Euro erwirtschaftet
die Astrologiebranche, mehrere hundert Millionen der seit Jahren zum Teil
zweistellig wachsende esoterische Buchmarkt. Wie groß der Esoterikmarkt
wirklich sei, wisse niemand, zumal schon Volkshochschulen Handauflegen
in ihrem Katalog haben. Für die Illustrierte Stern hatte 1992 der
Esoterischem mitnichten abholde Publizist Harald Wiesendanger Wie
Sie wissen, halte ich Geistiges Heilen für eine segensreiche Therapie.
den Umsatz von Geistheilern noch auf umgerechnet eine Milliarde Euro
geschätzt. Seine Berechnungen aktualisierte er 2005 auf Anfrage des Bundesverbandes
Sekten- und Psychomarktberatung. Basis waren die rund 500 von ihm erfaßten
deutschen Geistheiler: Wenn bei zwei Drittel aller Sitzungen 40 Euro
verlangt werden, addieren sich die Gesamteinnahmen allein in diesem Bereich
mittlerweile auf 3,6 bis 4,8 Milliarden Euro! Das letzte Drittel
heilt gratis oder nimmt nur Spenden.
Eine Viertelmilliarde,
so zitierte am 22. April 2004 die Hannoversche Wirtschaftszeitung
Matthias Pöhlmann von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen,
erwirtschaften allein esoterische Lebensberater pro Jahr. Vermehrt
hielten auch zweifelhafte Coaching-Modelle, Praktiken und heilsversprechende
Lösungsmodelle für Gott und die Welt Einzug in
Wirtschaft, Politik und Wissenschaft. Denn funktionierende Unternehmen bedürfen
funktionierenden variablen Kapitals. Günstig sind Lohnabhängige,
die stillhalten, weil sie ihre Funktion im Profitsystem als naturgegeben,
also unveränderbar betrachten und den Grund für Funktionsstörungen
statt in den objektiven in ihren privaten Verhältnissen suchen. Und in
erster Linie in sich selbst. Wo die Geschlechterhierarchie und sexistische
Rollenmodelle grundlegender Teil des Wirtschaftssystems sind, folgt die Heilungsarbeit
an sich selbst derselben Hierarchie und stellt sie auch bei der Arbeit
am besseren Mann alles andere als in Frage. So beim österreichischen
Verein Nahverwandt, dessen Seminare der antifeministische Newsletter
des Männerrat e.V. regelmäßig bewirbt, zuletzt am 24. Oktober.
Unsere Art von Männerarbeit ist offen für alle sexuellen Orientierungen.
Entscheidend für uns ist, wie liebevoll und zärtlich die jeweilige
Beziehung gestaltet wird, behauptet das nahverwandte Männerlexikon,
in dem außer in diesem Satz keine homosexuellen Beziehungen auftauchen
und man unter Archetypen liest, was der Mann wirklich ist: König,
Krieger, Liebhaber und Magier. Unter Erleuchtung erfährt
man, daß Gott oder die höhere Macht männlich ist
und: Wenn jemand in unserer Gesellschaft mit vielen Partnern Sex hat,
dann glauben die meisten, daß dies ein Ausweis der Freiheit von Scham
und Schuld ist. Nein! Genitale Sexualität könne zu einer
Nebensache werden, wenn Menschen durch Übungen und Lebensdisziplin in
einer tiefen Zufriedenheit und einem umfassenden erotischen Gefühl leben.
Dies ist das Geheimnis der sogenannten Mystik, und die ist verheiratet
mit Gott. Wußten Sie, daß es für Frauen leichter
ist als für Männer, einen Zustand zu erreichen, bei dem jeder Atemzug
zu einer erotischen Beziehung zu Gott und zu vollkommener Zufriedenheit führt?
Und zwar einfach, weil ihr Körper weiblich ist, so wie die Seele.
Zur Suche nach dem Gral im Schattenreich unserer Seele müssen
Sie allerdings in den Wald, denn Mutter Natur bietet Mann ein großartiges
Bild weiblicher Wirkkräfte und ist kompetente Führerin auf der Suche
nach der eigenen Anima. Mit etwas Glück laufen Ihnen an den sieben
Wald-Seminarwochenenden auch noch Ihr inneres Kind und Ihre innere
Frau über den Weg.
All den Hokuspokus gibts
auch für Perverse, am besten im Deutschen Märchenwald, wo das schwule
Tagungshaus Waldschlößchen neuerdings Akademie
heißt und Politik nicht mehr stattfindet. Wenn Sie mal Fragen
am Lebensweg haben: In Aufstellungen schaut man in einen größeren
systemischen Zusammenhang, was da noch mitwirkt und dazugehört.
Für 295 Euro gehören Sie zum Eso-Klassiker, und Ihre so
veränderte Seele weiß um neue Antworten nach dieser feinen
Seelenarbeit. Falls Sie für 95 Euro zum schwulen Behindertentreffen
einchecken, könnte ein bißchen Reiki die Wahrnehmung Ihres lädierten
Körpers beflügeln. Schwule Tantrakurse finden Sie im nächsten
Esoshop, sonstiges Spirituelles im Anzeigenteil jedes queeren
Stadtmagazins, so etwa in der Berliner Siegessäule: Tom
Krause liest für Dich im morphoenergetischen Feld! Du bekommst online
Antworten auf Deine Fragen! Eventuell pendelt Tom sogar die Ergebnisse
der nächsten Bundestagswahl für Sie aus. Ansonsten müssen Sie
einzeln oder gruppenweise zu Usch von Husch: Die Mystikerin bietet Coaching,
Consulting, Reiki ... Usch die Heilerin in der Praxis-Werkstatt. Und
Achtung: Bevor Sie als Fisch auf Gayromeo oder Gayroyal ein
Date ausmachen, schauen Sie tunlichst auf das obligatorische Sternzeichen.
Sonst fickt Sie am Ende ein Stier, und das kann nicht gutgehen. Das günstigste
Datum verrät das Horoskop Ihrer Homo-Illu.
So idiotisch der Spuk, so szenenotorisch ist er. Nicht von ungefähr 1987, auf dem Zenit der AIDS-Krise, verspotteten ihn die schwulen Songwriter Romanovsky & Phillips aus Santa Fe im herrlich schrägen Waltz for the New Age. Der Refrain des gesungenen Wochenplans zwischen Chakren, Re-Inkarnation, Mantra und energetischer Reinigung endet stets mit Cause I want to be enlightened. Die Ehre für den Walzer, so Ron Romanovsky, gebühre allerdings nicht ihm. Er sei ihm nämlich gechannelt worden von einer Erscheinung, die behauptet, sie sei Chopins Friseur gewesen.