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Wovor haben Sie solche Angst?


Weil man Friedrich Wolfs „Kunst ist Waffe“ von 1928 viel später zur Losung des sogenannten Sozialistischen Realismus’ erhob, ward der Satz vor etlichen Jahren mitsamt dem Sozialismus für Unsinn erklärt und aus dem öffentlichen Bewußtsein getilgt. Was mitnichten verhindert, daß der Kunst- und der Medienbetrieb die Aussage, daß Kunst Waffe sei, tagtäglich beweisen in der einen wie der anderen Richtung: Kunst ist Waffe für oder gegen die Aufklärung, für oder gegen kritisches Bewußtsein und Zivilcourage, für oder gegen Geschichtsfälschung, für oder gegen Frauenfeindlichkeit, Rassismus und Homophobie, für oder gegen das gesellschaftliche Verhältnis namens Kapital. Und weil Kapital und Demokratie ein antagonistisches Paar sind, also: für oder gegen die Demokratie.

Manchmal ahnen Kunstschaffende ja gar nicht, daß ihr Werk eine Waffe sein könnte, geschweige denn haben sie beabsichtigt, damit eine zu schmieden. Taucht es jedoch in einem bestimmten Kontext, am rechten Ort zum rechten Zeitpunkt auf, so können selbst die banalsten Rollen Zelluloid zum künstlerischen Kommentar auf aktuelle politische Zustände und Geschehnisse werden – ein „Whole New Thing“.

Der Kanadier Amnon Buchbinder hatte gewiß keinen politischen Film im Sinn, als er im August 2004 gemeinsam mit seinem späteren Hauptdarsteller Daniel Maclvor beschloß, eine von dessen Schulzeit-Erinnerungen zum Drehbuch zu machen. Von Hause aus Kurzfilmer, ist Whole New Thing nach The Fishing Trip (1998) erst Buchbinders zweiter Langfilm. Noch immer hält er „Unschuld, die Reinheit der ersten Liebe, Naivität, unwirkliche Ängste“ für die „Hauptthemen“ seines 2005 gedrehten Streifens. Naivität. – Vielleicht ist sie der eigentliche Grund für die Existenz des Films. Nur ein völlig naiver Regisseur konnte wohl – bislang ungestraft – mit einem Projekt in ein weltweites, deutlich von massenhysterischen Zügen geprägtes Klima allgegenwärtigen Verdachts platzen, in dem ein Teenager seinen ganzen Pubertätselan erotisch fordernd auf einen hilflosen Erwachsenen ausrichtet. Noch dazu einen Lehrer.

Die Rede ist von Emerson. Der Dreizehnjährige, gespielt von Aaron Webber, ist nicht nur frühreif und furchtbar langhaarig, sondern auch „antiautoritär erzogen“ worden – eine zumeist übersehene sprachliche Kontradiktion, deren semantischen Kern einzelne Sequenzen sehr hübsch bloßlegen. Die Familie (Roger Thorsen ist ein gescheiterter Umwelterfinder und sieht entsprechend verhärmt aus, seine Gattin Kaya langweilt sich zusehends in dieser Ehe, vor allem sexuell) lebt am Rande eines Kaffs in der Provinz Nova Scotia. Seinen ersten Fantasy-Roman hat Emerson gerade abgeschlossen, aber der geht die Eltern nichts an. Gleichaltrige Freunde hat Emerson keine; mit denen wüßte er wenig anzufangen. Ihm genügen Bücher und Musik. Ab und zu geben die Eltern Parties, sie machen die winterliche Einöde erträglicher und sorgen für soziale Mindestkontakte. Man hat eine Sauna im Wald und Emerson beliebte Massagehände, wobei der intensive Kontakt mit fremder Haut neuerdings Nebenwirkungen in Form spontaner Erektionen zeitigt.

Kaya und Roger gehen wie typische Gutmenschen mit der erwachenden Sexualität des Sohnes um. „Schatz ... Wie wundervoll. Ist es das erste Mal?“ lächelt die Mutter, als Emerson sein beflecktes Bettlaken wechselt. „Schon gut, Kaya“, blickt er betreten nach unten. „Das muß dir nicht peinlich sein.“ Er sieht immer noch weg. „War’s auch nicht, bis du den Mund aufgemacht hast.“ Anders der „Father-Son-Talk“ beim Holzhacken: „Wie oft onanierst du so?“ – „Nach jeder Mahlzeit, und ich benutze Zahnseide.“ Roger doziert: „Je öfter du onanierst, desto weniger feuchte Träume hast du.“ Emerson: „Ich mag meine Träume.“ Roger nicht: „Zuviel Wäsche schadet der Umwelt.“ Verständnislos stapft der Filius ins Haus. Der Frage „Wohin gehst du?“ folgt eine eindeutig-umweltfreundliche Geste der rechten Hand.

Als Emerson mit dem „Homeschooling“ nicht weiterkommt, das ihn vor der bösen Welt da draußen schützen soll (in Mathematik ist er auf dem Stand eines Viertkläßlers), muß er leider auf die Schule. Widerwillig beugen sich Vater und Sohn den Zwängen – aber der Sohn schon etwas weniger, nachdem Kaya Don zum Essen eingeladen hat. Sein dreißig Jahre älterer künftiger Klassenlehrer fasziniert ihn. Ein Sparringspartner beim Wortwitzeln, frustriert von angeblich altersgerechter, strunzlangweiliger Schul-Pflichlektüre und wie er verliebt in Shakespeares Sonette. Endlich! Don gefällt’s, bis sich erweist, daß er in den Augen des Pubertierenden mehr ist als ein Freund. Der Lehrer lebt nach einer gescheiterten Beziehung allein und so macht Emerson, der herausgefunden hat, daß Don Männer begehrt, ihm immer offener den Hof und lockt, besser: zwingt ihn geschickt in die Sauna, um sich ihm in klarer Absicht zu nähern. Don, ohnehin mit Nähe-Problemen, wehrt ab: „Nein!“ Es ist die Schlüsselszene. Heranrückend, ihn zaghaft-zärtlich berührend, sagt der nackte Junge dem kindlich-unschuldigen Mann im Anzug, was sonst in anderer Richtung gesagt würde: „Warum immer nein? Sie glauben, Sie sind allein, aber das stimmt nicht.“ Und: küßt Don auf den Mund. „Wovor haben Sie solche Angst?“ ruft Emerson dem panisch Flüchtenden nach.

Eben das ist die Frage. Politik, Kirchen, Medien haben uns die Angst vor Nähe, vorm Körper, vor Sexualität eingetrichtert, mit aller Gewalt. Da jedoch „Minderjährige“ diese Angst vor Lust nicht kennen, sondern frei, unbefangen und Anarchisten in all dem sind, bis man sie indoktriniert, wurde ihre nicht vorhandene Lust-Angst spiegelverkehrt den „Volljährigen“ in die Hirne geprügelt, und zwar buchstäblich. Was dieser Film schildert, ist das Leben wie es ist und sein kann, aber nicht sein soll und darf. Sexuelle Ausbeutung von Kindern nicht nur durch Erwachsene gibt es millionenfach, aber diese Variante eben auch. Indes hat diese Gesellschaft längst das Gute, Schöne, Wichtige und Ersehnte zum generell Bösen und in jeder Erscheinungsform Suspekten erhoben – und das Böse zum einzig zulässigen Agens politischen Denkens und gesetzgeberischen Tuns. Genau dieses Klima ist es, das einen eher unscheinbaren, unaufgeregten Unterhaltungsfilm wie Whole New Thing zum Plädoyer wider den Mißbrauchs-Wahn, zur entwaffnenden Waffe im Kampf gegen ein tumbes, rein ideologisch motiviertes Sexualstrafrecht macht. Deshalb haben wir unseren Schwerpunkt mit Szenen daraus illustriert.

Am 1. März wird Whole New Thing von der schwul-lesbischen Verleihfirma Pro-Fun Media zunächst in Berliner und Hamburger Kinos und am 1. Mai als DVD auf den Markt gebracht. Streng genommen und erst recht gemessen an den in diesem Heft behandelten Strafrechtsverschärfungen ist der Film ein Fall für die Sittenwacht vom x-beliebigen Staatsanwalt bis hin zu Elke Monssen-Engberding, Chefin der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien. Man wird sehen, wer sich als erster an ihm vergreift..