Am 5. April 1939 reichte
ein Universitätsrat dem Rektor der Kölner Universität an einem
mit Hitlergruß versehenen Begleitschreiben die Unterlagen in Sachen
Dr. Kresse zurück. Da es sich bei Alwin Kresse, einen Anfang der
zwanziger Jahre an der Kölner Uni promovierten Doktor der Medizin, nach
den Feststellungen des Gerichts um einen kriminell Homosexuellen handelt,
bei dem ständige Rückfälle zu befürchten seien,
hielt die Hochschule die Entziehung des Doktorgrades für angebracht.
Zwei Wochen später teilte sie Kresse den Entziehungsbeschluß schriftlich
mit, woraufhin der damals im Kölner Arbeiterstadtteil Kalk praktizierende
und nach Zeitzeugen hohes Ansehen in der ärmeren Bevölkerung genießende
Arzt Beschwerde beim zuständigen NS-Reichserziehungsminister einlegte
vergeblich.
Kresse galt im damaligen
Justizjargon als Gewohnheitsverbrecher, weil er sich nach der
1935 verfügten drastischen Verschärfung des §175 durch das
NS-Regime zweimal homosexueller Vergehen schuldig gemacht hatte.
Noch während des laufenden Beschwerdeverfahrens wurde Kresse einem Kölner
Gericht aufgrund vermutlich von der Gestapo erzwungener und damit unwahrer
Zeugenaussagen wegen vollendeter und versuchter gewerbsmäßiger
Abtreibung in insgesamt vier Fällen zu einer Zuchthausstrafe von
zweieinhalb Jahren und der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf
fünf Jahre verurteilt. Kresse überlebte das Dritte Reich,
doch den entzogenen Doktortitel sollte er zeitlebens nicht zurückerhalten.
Die im Dritten Reich
aus staatspolitischen Gründen verfügten Aberkennungen rechtmäßig
erlangter Doktortitel sind bis heute etwas, womit sich der akademische Betrieb
ungern befaßt. In das Blickfeld der Geschichtswissenschaft geriet
diese Thematik erst seit etwa 1965, resümieren die an der Kölner
Universität beschäftigte Historikern Margit Szöllösi-Janze
und der Kölner Universitätsarchivar Andreas Freiträger im unlängst
veröffentlichten Band Doktorgrad entzogen! über die
zwischen 1933 und 1945 vollzogenen Aberkennungen akademischer Titel an der
dortigen Universität. In der Tat ist die Liste einschlägiger Untersuchungen
überschaubar. Am Beginn standen die Fälle zweier bekannter
Persönlichkeiten: Der Bonner Historiker Pauk Egon Hübinger forschte
über die Entziehung der Bonner Ehrendoktorwürde des Schriftstellers
und Nobelpreisträgers Thomas Mann, während Hans Georg Lehmann in
Marburg der Frage nachging, warum dem Sozialdemokraten Rudolf Breitscheid
nach der Emigration der philosophische Doktortitel der Phillips-Universität
aberkannt wurde, so das Autorenduo.
Legte etwa an der Freiburger
Albert-Ludwigs-Universität deren damaliger Rektor Volker Schupp 1984
eine Untersuchung zu den dortigen Aberkennungsverfahren vor, stand die Kölner
Universität die nach 1945 immerhin einen einflußreichen
NS-Rasseideologen schamlos als Rektoren duldete jahrelang nicht ganz
zu Unrecht in dem Ruf, bei der Erforschung der eigenen NS-Vergangenheit die
Archive fest verschlossen zu halten. Selbstkritisch müssen Szöllösi-Janze
und Freiträger einräumen, an der Kölner Uni seien noch bis
1998 keine intensiveren Recherchen zur Ermittlung einzelner Fälle
oder des gesamten Komplexes angestellt worden. Kein besonders schmeichelhafter
Befund, denn auch die 1919 wiederbegründete Kölner Universität
blieb vom Nationalsozialismus nicht unberührt.
Die in Zusammenarbeit
mit Studierenden des historischen Hauptseminars Die Universität
Köln im Nationalsozialismus erarbeitete Studie leistet nun einen
beachtlichen Beitrag zur Aufarbeitung jener juristisch gedeckten Willkürakte,
die in Köln bisweilen prominente Persönlichkeiten betrafen wie etwa
den nach 1945 am renommierten (West-) Berliner Otto-Suhr-Institut lehrenden
linken Sozialwissenschaftler Ossip K. Flechtheim (1909-1998) oder den
übrigens homosexuellen Verfasser der literaturwissenschaftlichen
Studie Außenseiter, Hans Mayer, der bis zu seinem Tod am
19. Mai vor fünf Jahren in Ost wie West als der deutsche Literaturwissenschaftler
galt.
Insgesamt rekonstruieren
und dokumentieren Szöllösi-Janze und Freiträger aus den noch
vorhandenen Akten 65 Doktorgradentziehungen in Köln, 34 davon, weil die
Betreffenden vom NS-Staat ausgebürgert worden waren beziehungsweise
flüchten mußten und ihnen dann vom Regime nachträglich die
Staatsbürgerschaft aberkannt wurde, was quasi automatisch den Verlust
der Doktorwürde nach sich zog. Weitere 31 Entziehungen erfolgten, nachdem
die Betreffenden von einem NS-Gericht verurteilt worden waren. Grundlage war
ein bis heute (!) gültiges, von den Nazis freilich verschärftes
Gesetz, nach dem verurteilten Straftätern der Doktorgrad wegen Unwürdigkeit
wieder aberkannt werden kann.
Das überraschende
Fazit der Studie: Von den insgesamt 31 auf diese Weise verfügten Entziehungen
in Köln hatten 13 (d.h. 42 Prozent) einen klaren sexualpolitischen Hintergrund,
erfolgten sie doch jeweils nach Verurteilungen wegen Homosexualität (5
von reichsweit insgesamt bekannten 68 Fällen), Abtreibung (6 von 85),
Sittlichkeitsdelikten/Exhibitionismus (1) und Lebenswandel (1).
Dabei waren nach dem 1933 verabschiedeten NS-Gesetz gegen die Überfüllung
deutscher Schulen und Hochschulen in Köln pro Semester lediglich
etwa 2.400 Studierende eingeschrieben, im gesamten Zeitraum 1933 bis 1945
dürften es in der Domstadt rund 65.000 gewesen sein. Da über
1945 hinaus die Abtreibung ein Straftatbestand blieb und auch der § 175
StGB fortgalt, war in diesen Zusammenhängen die Entziehung des Doktortitels
auch an der Universität zu Köln weiterhin aktuell, so die
Autoren.
Alwin Kresse, der zum Ende des Dritten Reichs als Werksarzt in den Kölner Ford-Werken ausländische Zwangsarbeiter vor dem Tod rettete, erhielt erst 1949 vom nordrhein-westfälischen Gesundheitsminister die ärztliche Approbation zurück. Die Universität verweigerte ihm jedoch hartnäckig die Rückgabe des Doktortitels und mehr noch: sie bekräftigte sogar ihren Entschluß aus der NS-Zeit. Als Kresses damals hochbetagter Bruder Hans 1962 von der Hochschule energisch die vollständige Rehabilitation Alwins forderte, legte die Uni den Brief unbeantwortet zu den Akten und qualifizierte dessen Absender als Querulanten.
Margit Szöllösi-Janze/Andreas
Freiträger: Doktorgrad entzogen! Aberkennung akademischer
Titel an der Universität Köln 1933 bis 1945. Kirsch Verlag, Nümbrecht
2005. 132 Seiten, 12,00 Euro