Ein kleines
Volksgericht verkündete nach dreimonatiger Beweisaufnahme am 29. Oktober
um elf Uhr sein Urteil: Der Angeklagten wird dauerhaft das Aufenthaltsrecht
entzogen. Die Abschiebung ist sofort zu vollstrecken, die Berufung ist ausgeschlossen.
Beim Volksgericht
auch bei einem kleinen gelten andere Gesetze als die eines rechtsstaatlichen
Verfahrens, in dem eine Strafprozeßordung insbesondere die Angeklagten
vor Willkür und Fehlurteilen schützt. Vorm Volksgericht zählen
Meinungen und Empfindungen des Volkes, während berechtigte Einwände
oder Verweise aufs Faktische unter Umständen den Prozeßverlauf
ungünstig beeinflussen und das begehrte Urteil gefährden könnten.
Freisprüche sind beim Volksgericht gemeinhin nicht vorgesehen; im für
die Angeklagten besten Fall ist ihr guter Ruf dahin.
Und so
wurde die Angeklagte auch von diesem kleinen Volksgericht erst im nachhinein
über das Vorliegen einer Anzeige, den Beginn der Ermittlungen sowie die
Klageerhebung informiert. Auch wurde sie nicht um eine Stellungnahme zu den
Vorwürfen ersucht, wie dies in bürgerlichen rechtsstaatlichen Ermittlungsverfahren
sogar gegen Linke üblich ist, und logischerweise benötigte sie auch
keine Verteidigung, die, wie die Angeklagte selbst, zur nichtöffentlichen
Verhandlung ohnehin nicht geladen worden wäre.
Das kleine
Volksgericht war von OH 21 angerufen worden, eines von der zahlungskräftigen
Nachfrage eines links-autonomen Publikums lebenden Buchladens in Berlin-Kreuzberg.
Grundlage war eine Denunziation. Die daraufhin erhobene Anklage lautete wie
die vom diensthabenden Mitglied des Ladenkollektivs an jenem 29. Oktober der
Verurteilten, nämlich Gigi, in einen einzigen Satz gefaßte
Urteilsbegründung: Man habe diese Zeitschrift ausführlich
studiert und sich entschieden, diese Zeitschrift nicht weiter
zu vertreiben wegen der Entwicklung hin zur Pädophilie. Das
war alles, konkret wurde der Mann nicht. Und selbstverständlich wurde
der verurteilten Redaktion auch nichts Schriftliches zugesandt, worin dies
näher ausgeführt worden wäre. Beschlossen und verkündet:
Wegsperren, und zwar für immer.
Angebahnt
hatte sich der Fall bei Anlieferung der Ausgabe 39. Nein, so derselbe Buchhändler
damals, man könne die vorangegangene Ausgabe nicht abrechnen: Die
Hefte sind noch nicht wieder da. Der Lieferant staunte: Verkaufte Hefte
würden üblicherweise nicht zurückgebracht. Erst da rückte
der Buchhändler raus mit der Sprache: Man habe alle Exemplare der Ausgabe 38
aus dem Verkauf genommen und statt dessen an Freunde zur inhaltlichen Überprüfung
weitergeleitet.
Nun stehen
in jeder Gigi die Kontaktdaten der Redaktion, aber niemand vom linken
Kollektiv hatte es für nötig befunden, sich mit ihr in Verbindung
zu setzen, um eine Stellungnahme einzuholen oder gar Hintergründe zu
erfragen. Im rechtsstaatlichen Prozeß, dessen Regeln sich als
Konsequenz leidvoller historischen Erfahrungen mit Justizwillkür entwickelten,
spielen Motive und konkrete Umstände für die Urteilsfindung eine
zentrale Rolle. Dies war nicht nur Ergebnis einer Humanisierung im Zuge der
bürgerlichen Aufklärung, sondern auch von Justizreformen in der
zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, um die sich gerade die Linke
verdient gemacht hatte. Buchläden handeln mit Wissen, und die Bücher,
in denen all das nachlesbar ist, kann man bei OH 21 kaufen. Aber wen interessiert
deren Inhalt in nur mehr kulturlinken Grauzonen, in denen berechtigtes Mißtrauen
gegen den bürgerlichen Staat in die Negierung jener zivilisatorischen
Elemente mündete, die ihm abzuringen die politische Linke Jahrhunderte
kostete? Presse-, Informations-, Meinungsfreiheit? Letat cest
moi.
*
Am 9. Dezember
teilte der Deutsche Presserat den Medien mit, seine beiden Beschwerdekammern
hätten vom 6. bis 8. Dezember in Bonn getagt und insgesamt
sieben Rügen ausgesprochen, meist wegen Persönlichkeitsrechtsverletzungen.
So rügte die Kammer 1 auch Bild aufgrund einer Berichterstattung
über einen tragischen Unfall in Bayern, bei dem sieben junge Leute ums
Leben kamen. Durch die Veröffentlichung negativer Aussagen ausschließlich
anonymer Quellen sei der durch ein veröffentlichtes Foto
identifizierbare getötete Fahrer in ein schlechtes Licht
gerückt worden. Denn Ziffer 9 des Pressekodex besagt:
Es widerspricht journalistischem Anstand, unbegründete Behauptungen
und Beschuldigungen, insbesondere ehrverletzender Natur, zu veröffentlichen.
Kammer 2 rügte Bild ebenfalls öffentlich. Die
Zeitung hatte über den Suizid eines Polizisten berichtet. Dieser wurde
durch ein Porträtfoto identifizierbar, das als unangemessen
sensationell eingestuft wurde. Hinzu kam eine nicht-öffentliche
Rüge gegen die Bild-Zeitung wegen des tragischen Todes
zweier Menschen bei einem Friedhofsbesuch. Einer der Toten wurde
durch ein nicht ausreichend gepixeltes Foto identifizierbar. Die zweite Tote
wurde durch den Nachnamen, der auf dem Grabkreuz eines Angehörigen lesbar
war, ebenfalls erkennbar.
Verhandelt
wurde auch die whk-Beschwerde gegen Bild wegen deren Darstellung der
öffentlichen Hinrichtung zweier mutmaßlich homosexueller und zum
Zeitpunkt der Tat minderjähriger Jungen im Iran in der Ausgabe
vom 27. Juli 2005. Als alle Welt den Mord verurteilte, zieh die
iranische Justiz nachträglich die Opfer der Vergewaltigung eines 13-Jährigen.
Da zeigte Bild ihre Ermordung. Bildüberschrift: Hier werden
zwei Kinderschänder gehängt.
Was, meinen Sie, war dies dem Presserat wert? Eine öffentliche oder nichtöffentliche Rüge? Sie irren. Er sprach Bild laut telefonischer Auskunft vom 14. Dezember eine zu nichts verpflichtende Mißbilligung aus. Die Ermordeten waren keine Deutschen, keine Polizisten, keine Opfer eines tragischen Unfalls. Nur Iraner und erst recht nur Homosexuelle. Potentielle Kinderschänder also vorm gesunden Volksempfinden. So welche haben keine Ehre, nicht in Deutschland, journalistischer Anstand her oder hin. Und wenn Bild sie für sein gesundes Leservolk als Kinderschänder hängen sehen will, dann ist das vielleicht nicht ganz rechtens, aber schon in Ordnung.
Eike Stedefeldt