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Defizite


Als der Bundesrat am 18. Februar mit der Unions-Mehrheit den rot-grünen Antidiskriminierungsgesetz-Entwurf ablehnte, wäre dies auch mit der im November vom Kieler Familienministerium weitgehend unbemerkt vorlegten Studie „Gleichgeschlechtliche Lebensweisen in Schleswig-Holstein 2004“ gut begründbar gewesen. Eine „unverzichtbare“ Maßnahme zur „mittel- und langfristigen“ Absicherung von Antidiskriminierungsbestrebungen, so die Experten des Instituts für Pädagogik an der Universität Kiel, sei ein komplexer Mix aus Aktivitäten für die „positive Unterstützung für Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind“. Und nicht die bloße Verabschiedung von Gesetzen.

Generell bescheinigen sie derzeitiger Antidiskriminierungspolitik entscheidende „Defizite auf der Bundesebene“. So sei im Vergleich zur europäischen Ebene die „Zurückhaltung“ der Bundesregierung „bei der finanziellen Förderung von positiven Maßnahmen gegen Diskriminierung ... auffallend“. Der Gedanke, daß sie am besten zu bekämpfen ist, indem man ihre Ursachen beseitigt, ist der Koalition offenbar völlig fremd. Kein Wort folglich von dauerhafter finanzieller Unterstützung auch lesbisch-schwuler Emanzipationsprojekte im vorliegenden ADG-Entwurf. Der führt statt dessen – nur ein Beispiel – das menschliche Lebensalter (!) als Benachteiligungskategorie ein. Im Sinne eines florierenden Antidiskriminierungs-Ablaßhandels dürfte sich derlei zwar als gewinnträchtig für Anwälte und Sozialverbände erweisen – irgendein gegebenenfalls unpassendes Alter hat, je nach Gelegenheit, schließlich jeder –, gegen Diskriminierung und die allerorten grassierende und von der Bundespolitik geschürte Altenfeindlichkeit wird’s indes kaum helfen. Nicht kritisiert wurden von der Homo-Szene bislang auch – noch ein Beispiel – Formulierungen im vorderen Teil des Entwurfs. Nebulös ist dort von „unerwünschten sexuellem Verhalten“ und ähnlichem die Rede. Eine politische Bewegung, deren Protagonisten jahrhundertelang gegen sexuelle Verfolgung und Verdächtigung gekämpft haben, sollte sich spätestens hier über den sexualfeindlichen und potentiell homophoben Kern des geplanten Gesetzes im klaren sein. Aufgrund „unerwünschten“ sexuellen Verhaltens „diskriminiert“ dürfen sich nämlich fortan auch Heterosexuelle fühlen.

Wie solche „Antidiskriminierungspolitik“ bestenfalls zu einer Skandalisierung tatsächlicher oder bloß vermuteter abweichender Sexualität führen kann, las man im Februar im Kölner Szenemagazin Up Town im TV-Tip zur Serie „Boston Public“: „Im Football-Team geht es drunter und drüber: Der Linebacker Bobby Renfroe soll schwul sein, weshalb die anderen Spieler nicht mehr mit ihm duschen wollen. Coach Riley steht nun vor einem schweren Dilemma: Zwingt er die Mannschaft dazu, mit Bobby im selben Waschraum zu duschen, kann er sich auf eine Klage wegen sexueller Belästigung gefaßt machen; grenzt er Bobby aus, droht eine Klage wegen Diskriminierung.“ Schöne ADG-Welt.

Doch zurück nach Kiel, wo Antidiskriminierungs-Experten die Politik der Bundesregierung indirekt für konzeptionslos halten und vor einer „fehlenden Abstimmung von Vorhaben in verschiedenen Diskriminierungsfeldern“ warnen, die „auch zu einer Konkurrenz untereinander“ beitrage, da etwa „Maßnahmen zugunsten gleichgeschlechtlicher Lebensweisen“ „deutlich weniger weit entwickelt“ seien als Aktivitäten in anderen Bereichen. Mehrfach weisen sie unmißverständlich auf Benachteiligungsursachen hin: Die Wahrscheinlichkeit, Diskriminierung zu erfahren, steige demnach „mit dem Mangel an materiellem, sozialem und kulturellem Kapital“. Eine Erkenntnis, die der rot-grüne ADG-Entwurf ebenfalls ignoriert.

Für die Kieler Studie eruiert wurde zunächst die Situation lesbisch-schwuler Initiativen. „Die meisten Angebote für Lesben in Schleswig-Holstein sind in Frauenprojekte integriert, während ein organisatorischer Zusammenhang von Schwuleninitiativen mit Jungen- oder Männerprojekten nicht gegeben ist ... Die Zusammenarbeit der Initiativen ist rein zweckbezogen im Hinblick auf die jeweilige Zielgruppe. Frauen- und Lesbeninitiativen melden wenig Bedarf an, mit Männern zusammenzuarbeiten“ – eine nicht unerhebliche Feststellung für die Förderung wirkungsvoller Antidiskriminierungsmaßnahmen. Untersucht wurden zudem jene Diskriminierungsfelder, in denen bereits die erste Erhebung von 1998/99 „einen hohen Handlungsbedarf“ ergeben hatte, so die Bereiche Jugendarbeit, Schule, Arbeitswelt und Institutionen. Erweitert um die Komplexe Kirche und Justizvollzug – letzterer kommt im Berliner ADG-Entwurf vor allem deshalb nicht vor, weil sich der Staat als größter Verursacher von Diskriminierung darin komplett unsichtbar macht –, gehen die Kieler Antidiskriminierungsmaßnahmen somit wesentlich weiter als die der Bundesregierung. Der „Justizvollzug als Institution“ wird sogar „als schwierigstes Arbeitsfeld im Hinblick auf einen Abbau von Diskriminierung eingeschätzt“. Eine sinnvolle Antidiskriminierungspolitik zeichne „neben einer weiteren Verbesserung der gesetzlichen Basis und einer Optimierung von Infrastrukturmaßnahmen“ vor allem aus, „tiefsitzende Muster bisheriger Dominanzkultur zu verändern, die bis in die Einstellungen und Interaktionsmuster der Individuen hineinreicht“. Vom Berliner ADG ist das kaum zu behaupten. Es schreibt eine Dominanzkultur vielmehr erst fest, die jeden Bürger potentiell vielfach Opfer und Täter zugleich sein läßt – je nachdem, welche Diskriminierungs-Kategorie man gerade anlegt.

Indem sie zeigt, wie eine sachgerechte Antidiskriminierungspolitik auszusehen hätte, erweist sich die Kieler Studie als nützlich in der aktuellen Diskussion. Schade nur, daß die Landesregierung die Studienergebnisse offenbar bewußt aus der ADG-Debatte heraushalten will. Denn obwohl sie bereits Ende Juli 2004 vorlagen, veröffentlichte das Familienministerium unter Anne Lütkes (Bündnis 90/Die Grünen), die auch Justizministerin ist, erst am 15. November eine Presseerklärung dazu, in der es vage heißt, die Erhebung zeige „ein differenziertes Bild mit Licht und Schatten“. Die Zusammenfassung auf der Ministeriums-Website wird überdies deren Charakter nicht gerecht. Wer sich nach dem Verbleib der vollständigen Studie erkundigt, den verweist das Ministerium an die Universität Kiel, die wiederum angibt, zur unter www.sielert.uni-kiel.de/umfrage/Ergebnisse.pdf abrufbaren 27seitigen Kurzfassung gebe es leider gar keine Vollversion: „Ein Forschungsbericht konnte ... noch nicht erstellt werden, weil uns dazu die Mittel fehlen.“

Dabei ist der Bedarf groß: „Allgemein kann aus den Reaktionen der gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen in Schleswig-Holstein geschlossen werden, daß sich dort bestenfalls die in der Gesellschaft allgemein gewachsene vordergründige Toleranz in Form von Gleichgültigkeit widerspiegelt“, so die Wissenschaftler. „Hinzu kommt angesichts knapper werdender finanzieller Mittel und gleichzeitig zu bewältigender Aufgaben ein Verdrängungswettbewerb, der meist jene Themen betrifft, die keine starke Lobby an der Mitgliederbasis haben.“ Übersetzt für die bürgerliche Homo-Lobby: Wer am lautesten schreit, wird noch lange nicht am meisten diskriminiert.

Dirk Ruder