Start

Dem kommenden Tag


Die Herausgabe eigener Kampfschriften war stets eines der wichtigsten Ziele (homo-) sexueller Emanzipationsbewegungen. Sie stand sogar schon auf der Tagesordnung, als es noch gar keine Homosexuellenbewegung gab. „Karl Heinrich Ulrichs, der erste Vorkämpfer von Bedeutung in der uranischen Bewegung, hatte den Plan gefaßt, im Jahre 1870 die Zeitschrift Uranos herauszugeben, leider wurde er daran durch äußerliche Gründe behindert“, erinnerten am 1. März 1921 Ferdinand Karsch-Haak und René Stelter an die frühen Anfänge. An jenem Tag wagten der Literat Stelter und der Historiker Karsch „zum fünfzigjährigen Jubiläum der Lieblingsidee Ulrichs’“ einen zweiten Versuch mit dem Start ihrer „Blätter für ungeschmälertes Menschentum“. Polizeilich verfolgt und ohne Geld, hatte Ulrichs (1825-1895) das Vorhaben seinerzeit bereits nach dem ersten Heft wieder aufgeben müssen. Doch fünfzig Jahre später, kurz nach der November-Revolution, schienen die Chancen für eine „dem kommenden Tag“ verpflichtete Zweiwochenschrift in Deutschland günstiger. Als redaktioneller „Leiter für Wissenschaft und Kritik“ zeichnete Professor Karsch verantwortlich, „Leiter für Lebensgestaltung und Belletristik“ war René Stelter. Uranos erschien, nicht zuletzt aus Kostengründen, mit ähnlichem Titelblatt wie viele kleinere, sich eher an ein intellektuelles Publikum wendende Zeitschriften seiner Zeit – etwa Die Weltbühne oder Die Freie Bühne – und kam im Innenteil ohne viele Illustrationen aus. Die Redaktion befand sich zunächst in der Knesebeckstraße 92 in Berlin-Charlottenburg, später zog man um nach Kreuzberg.

Interessanterweise verstanden die Herausgeber unter dem Begriff „Uranier“ nicht bloß – wie Ulrichs – Homosexuelle, sondern „alle diejenigen, bei denen das Mischungsverhältnis der Geschlechter sich mehr zur Mitte hinneigt, als bei der Norm, ganz abgesehen von der Richtung des Geschlechtstriebs“. Man begriff sich also nicht als Teil einer homosexuellen, sondern einer – breiteren – sexualpolitischen Bewegung, denn „durch die stereotypen Formen Mann/Weib, auf die das Gesamtleben in der Gesellschaft eingestellt ist, werden die Uranier … an ihrer Entfaltung besonders gehindert“. Die „Durchbrechung“ dieser „starren Formen, die der vereinfachten Auffassung früherer Zeitalter entsprechen“, erhoben Karsch-Haak und Stelter daher zum Programm.

Freilich erwies sich bei dem 2002 in der Reihe Bibliothek rosa Winkel erschienenen Reprint des ersten Uranos-Jahrgangs, daß das offene Konzept einer für alle sexuell und konstitutionell von der Norm Abweichenden in der heutigen Lesben- und Schwulenszene nicht mehr durchweg verstanden wird. Als ein „skurriles Leseerlebnis … für Liebhaber bizarren Lesestoffs und Sammler unnützen Wissens“ annoncierte es beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft der schwulen Buchläden in ihrem Katalog, was wohl vom Kauf eher abraten sollte. Auch wenn mancher „für fruchttragende Lebenshaltung“ werbende Artikel und mancher Aufruf „an alle Homosexuellen Deutschlands“ beim Wiederlesen nach mehr als achtzig Jahren nicht nur sprachlich eigenartig wirken muß – politisch blieb Uranos zeitlebens naiv und passiv –, so ist das von Karsch und Stelter in der wirtschaftlich wie politisch turbulenten Weimarer Republik gegen „große Widerstände und Schwierigkeiten“ realisierte Projekt damit noch lange nicht als Ganzes entwertet. Das Magazin ist (und bleibt) vielmehr Teil eines über Jahrhunderte währenden publizistischen Kampfes gegen die sexuelle Diskriminierung, den Uranos damals an der Seite von Publikationen wie Der Eigene, Die Freundschaft oder auch des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen führte. Wohl deshalb hat die Gesellschaft für literarwissenschaftliche Homostudien der Universität Siegen die verdienstvolle Wiederveröffentlichung vor zwei Jahren finanziell unterstützt.

Wer beispielsweise die historischen und ethnographischen Texte des Uranos mit wachem Verstand liest, wird darin einiges an Themenvielfalt und Tiefgründigkeit entdecken – eine Tradition, wie sie aktuell nur Gigi fortführt. Ebenso wie unsere mit diesem Heft fünf Jahre alt werdende Zeitschrift für sexuelle Emanzipation wollte die „unabhängige uranische Monatsschrift“ zeigen, „wie sich Gesellschaft und Staat vergangener und gegenwärtiger Zeit in den einzelnen Staatswesen zu den Erscheinungen des Uranismus gestellt haben“. So schrieb Karsch bereits in der ersten Ausgabe über die „Batschas“ genannten Tanzknaben in Turkestan; welche Medien, wenn nicht die eigenen, hätten Homosexuelle seinerzeit auch sonst fachkundig über das Phänomen mittelasiatischer Lustknaben unterrichten können? Gleich das zweite Heft machte mit einer „sachgemäßen Untersuchung“ über Homoerotik in Christentum und Islam auf. Zu einer Zeit, als in Berlin dümmliche Diffamierungen wie „Kebapgehege“ (Siegessäule) noch nicht en vogue waren, fühlte sich Karschs wissenschaftlicher Ethos herausgefordert, den von seinen deutschen Kollegen mittels gefälschter Quellen als homophob verunglimpften Islam zu verteidigen. Den im 9. Jahrhundert nach christlicher Zeitrechnung verstorbenen arabischen Dichterfürsten Abu Nawas zitierend belegte Karsch etwa, daß der historische Islam Homosexuellen nicht, wie das Christentum, durch Todesstrafe und Folter, sondern durch kulturelle Freiheit „die Zunge gelöst“ habe: „Bagdads schöne Hauptmoschee, ich seh’ es/ Satans Rattenfalle ward/… Im gefüllten weiten Raum sind Knaben, schön gazellenhaft geschart.“ Daß Karsch auch belegte, wie deutsche Ethnologen schon zur Jahrhundertwende legale Männer-Ehen bei den Völkern Libyens zu Sklavenverhältnissen umlogen, sei hier nur am Rande erwähnt – sexuelle Freiheit im „vormodernen“ Islam durfte es im Kontext der kriegerischen Eroberungs- und Kolonialisierungspolitik des Preußischen Reichs einfach nicht geben.

Die Auflage des Uranos bewegte sich mit 2.000 Exemplaren in ähnlicher Größenordnung wie die von Gigi. Die Finanzierung bekamen die Herausgeber indes nie in den Griff. Nach erheblichen Ausfällen und Verzögerungen erschien das glücklose Blatt im Mai 1923 zum letzten Mal. Vergessen ist es wegen dieser kleinen Unpäßlichkeit jedoch nicht

Dirk Ruder