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Feindbilder


Ein Auslands-Schwerpunkt wird konzipiert. Autorinnen sind gewonnen, Fotos bestellt. Dann kommt der 4. November. Das ZDF strahlt die Reportage „Am hellichten Tage“ von Manfred Karremann aus. Sie zeigt Bilder jenes blutigen SEK-Einsatzes, der Gegenstand einer im Editorial von Heft 27 zitierten Gigi-Anfrage vom 9. Juni an die Berliner Staatsanwaltschaft war, welche die Antwort unter fadenscheinigen Begründungen (und gesetzwidrig) verweigert hat. Fünf Tage vor der Sendung ist Teil eins von Karremanns Serie „Unter Kinderschändern“ im Stern erschienen; am 6. November folgt Teil zwei.

Wir setzen Karremann auf den Titel, weil seine Reportagen mit Grundprinzipien einer demokratischen Presse brechen: Sauberkeit der Recherche, Distanz zu Ermittlungsbehörden, Verantwortung gegenüber unmittelbar und mittelbar Betroffenen. Den Bruch begleitet der Rückfall in einen verhetzenden Sprachgebrauch, der Bilder und Layout einschließt und das Ziel sichtbar macht: ein Vorurteil nicht anzuzweifeln, sondern zu untermauern, ein tumbes Feindbild nicht zu demontierten, sondern in den Köpfen zu fixieren. In anderer Absicht hätte der Stern Begriffe infrage stellen müssen wie den des „Kinderschänders“ und den des „Kindesmißbrauchs“, der ihren legalen „Gebrauch“ zur logischen Voraussetzung hat: den als Statussymbol, Ausweis sexueller Kraft, Träger des Erbgutes und Verlängerung des eigenen endlichen Seins ins Postmortale, den als Wahlhelfer, Werbeträger und Umsatzmotor, als Star in der Mini-Playback-Show, als Eigentum von Familie, Staat und Volksgemeinschaft. Dieser inhumane Gebrauch ist legal, weil er dem Utilitarismus einer auf Konkurrenz und dem Gesetz des Stärkeren basierenden Gesellschaft entspricht. Der Stern aber lebt nicht von der Aufklärung, sondern von der Sensation.

Selbst wenn man davon ausginge, daß Karremanns Zitate und Beobachtungen stimmen, so stechen jedem, der mal von Propaganda gehört hat, die Tricks ins Auge, mit denen einst gegen Kriegsgegner, politische Feinde, Homosexuelle, Migranten oder an den gesellschaftlichen Rand gedrängte Gruppen gehetzt wurde. Der Text wimmelt von Schlüsselwörtern und dramaturgischen Kniffen, die negative Assoziationen wecken und verstärken. Hinterhältig wird sachlicher und investigativer Journalismus als handwerkliche Form vorgegaukelt, während der Inhalt unjournalistisch statt einer Frage der begehrten Antwort folgt, wodurch er letztlich in Stimmungsmache mündet. „Experten-Interviews“ sind in solchem Kontext stets das Mittel, die Absicht zu kaschieren und dem Ganzen einen seriösen, neutralen Anstrich zu geben.

Doch den Stern wie seinen Reporter interessieren keine Ambivalenzen, sie führen Menschen nicht als komplexe Individuen, sondern als Pädophile vor und nennen sie auch so: da liegt nicht „ein Mann“, sondern „ein Pädophiler mit zwei Kindern im Bett“, liest man nicht „Lukas aus Wien“ sondern „Lukas, Pädophiler aus Wien“. „Worte können sein wie winzige Arsendosen“, schrieb 1946 der jüdische Philologe Victor Klemperer in seiner Lingua Tertii Imperii, „und nach einiger Zeit ist die Wirkung da.“ Im vorliegenden Fall bewirken die Worte die Genese einer Ethnie mit dem biologischen, sprich: genetischen Wesensmerkmal eines angeblich kaum beherrschbaren Hangs zur Gewalt an Wehrlosen. Einer für den fanatisierten Mob schwer erkennbaren Ethnie; er braucht als Feinbild ein in Sprache, Gebaren und sozialen Kennzeichen eineindeutig definiertes Haßobjekt – und das dumpfe Gefühl allgegenwärtiger Bedrohung.

Dazu annonciert der Stern ein „bundesweit organisiertes“ „Netzwerk der Täter“. Wie jede kriminelle Vereinigung konspiriert es selbstverständlich: enttarnt wird „die geheime Welt der Pädophilen“ (nicht: „die geheime Welt Pädophiler“). Der Feind lebt auch nicht in menschlichen Behausungen, sondern in „Pädo-Wohnungen“ und verbringt seine Freizeit nicht im Theater, sondern sucht „die Szene der Pädophilen“ (nicht: „die pädophile Szene“) auf oder das Freibad: „Das Westbad ist ‘in’ bei den Pädophilen“ (nicht: bei Pädophilen).

Bedrückend daran ist, daß die pauschalisierende Methode einen wegen der historischen Verharmlosung illegitimen Vergleich zumindest nachvollziehbar macht, mit dem Karremann „seine“ Pädophilen selbst zitiert. Diese fühlten sich verfolgt wie einst Hexen und Juden. Tatsächlich scheinen der Stern und die keineswegs besseren Kollegen vom Boulevard vom nächsten logischen Schritt, der Entmenschlichung des Feindbildes „die Pädophilen“, nur wenige Schritte entfernt. Ins Animalische weisende Phrasen wie sie „haben ihre Reviere“, seien dort „auf der Pirsch“, „sie lauern“ ihren Opfern auf oder „Kurt W. lacht meckernd“ sind Indizen dafür und lassen befürchten, daß eine sprachwissenschaftliche Vergleichsanalyse der Feindbild-Konstruktionen des Juden mit der des Pädophilen – nicht nur im Stern – Erschreckendes zutage fördern würde.

Bliebe die Frage: Warum ist das Publikum so empfänglich für all diese Feindbilder? Weil sie nicht über, sondern unter ihm stehen und ihnen leichter beizukommen ist als jenen, die tagtäglich Millionen in Elend, Krankheit und Tod treiben. Erwählte es die zum Feindbild, ginge ein Gespenst um in Europa.

Eike Stedefeldt


Postscriptum
an jene, die meinen, sie hätten eben „schon wieder etwas über Pädophilie“ lesen müssen. Darüber stand hier kein Wort. Es würde uns aber freuen, animierte unser Beispiel zur Überprüfung der sprachlichen Konstruktion anderer gängiger Feindbilder.