Start

Sterbehilfe


Recht zeitig, das heißt am 3. Dezember 2002, informierte die Deutsche AIDS-Hilfe (DAH) ihre Mitgliedsorganisationen über das Inkrafttreten des Gesetzes über die bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (BGBl. 2001 I S. 1310, 1335 in der Fassung der Änderung vom 27.04.2002, BGBl. I S. 1462) zum 1. Januar 2003: Ursprünglich sollte damit die verschämte Altersarmut bekämpft werden, so die Begründung. Antragsberechtigt sind jedoch nicht nur 65-Jährige und Ältere, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der „sozialen Hängematte“ Deutschland haben, sondern auch Jüngere ab 18, die – unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage – dauerhaft voll erwerbsgemindert sind. Auf diese Weise soll ganz nebenbei die ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt (Sozialhilfe) bei Niedrigrentenbeziehern eingespart werden, so der eigentliche Grund.

Parallel zur „Riester-Reform“, welche die Abschaffung von Erwerbsunfähigkeitsrenten sowie die Entsorgung von Berufsunfähigkeitsrenten für unter 40-Jährige zur Folge hatte (vgl. Gigi Nr. 9 und 10), kam auch das Grundsicherungsgesetz ins parlamentarische Verfahren. Über zwei Jahre hatten Lobbyverbände Zeit, Schlimmeres zu verhüten, ehe die rot-grüne Mehrheit im Bundestag noch vor ihrer knappen Wiederwahl dieses „neue“ Machwerk beschloß. Seither wissen DAH, Sozialverbände, Rentenversicherungsträger und Kommunen, was Beziehern von Niedrigrenten ab Neujahr zugemutet wird. Viele von ihnen warteten jedoch lieber den 22. September ab, da Schwarz-Gelb zuvor erklärte, im Falle eines Wahlsiegs die „Grusi“ wieder abschaffen zu wollen. Inzwischen haben Kreise, Städte und Gemeinden schon mal mit dem Aufbau ihrer Grundsicherungsämter begonnen.

Erst in der Vorweihnachtszeit haben Sozialämter und Rentenversicherungsträger alle 6,6 Millionen Alters- und FrührentnerInnen, die unter 844 Euro im Monat verprassen, mit einem leicht verständlichen Anschreiben und einem vierseitigen, kleingedruckten Antragsformular überrascht. Doch langsam, langsam! Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) geht davon aus, daß nur 5 bis 10 Prozent von ihnen mit Erfolg Anspruch auf „Grusi“ geltend machen können, erklärte BfA-Pressesprecher Walter Glanz auf Anfrage. Gebratene Tauben sind bekanntlich ein wenig flügellahm.

Die Homo- „Presse“, die kontinuierlich zur geistigen Verarmung eines Großteils kaufkraftschwacher HIV-Positiver und AIDS-Kranker beiträgt, hat bis einschließlich Dezember fundierte Infos über die mit der „Grusi“ einhergehenden existentiellen Bedrohungen ihrem konsumptiv unattraktiven Marketingsegment vorenthalten. Nun ist kostbare Zeit verstrichen und das Chaos vielerorts perfekt: Seit Jahresende ist sich die DAH sicher, „daß die Einführung der Grundsicherung nicht reibungslos ablaufen wird. Ebenfalls problematisch ist die Frage des Umgangs mit dem individuellen Rechtsanspruch auf eventuell über die Grundsicherung hinaus gehende Leistungen (z.B. Mehrbedarf) nach BSHG. Offen bleibt hier die Prüfungs- und Bewilligungspraxis der Sozialämter“.

Falsch! Diese sehen das nämlich ganz unkompliziert, wie eine telefonische Anfrage der Gigi-Redaktion bei verschiedenen Sozialämtern ergab: Mehrbedarf – zum Beispiel für Hygiene (Kondome), Kleider- oder Weihnachtsgeld – wird durch den Regelsatzzuschlag (15%) abgegolten und muß aus der „Grusi“ übers Jahr hin angespart werden. Schade, daß es im Merkblatt zum bundesweit einheitlichen Antragsvordruck mit knapp hundert Fragen keinen Hinweis auf diesen Wermutstropfen gibt.

HIV-Positive und AIDS-Kranke, die neben ihrer Niedrigrente auch noch den „Grusi“-Mehrbedarf (20%) für Schwerbehinderte kassieren wollen, müssen darüber hinaus durch Kopien ihres Schwerbehindertenausweises die Merkzeichen „G“ (gehbehindert) oder „aG“ (außergewöhnlich gehbehindert) nachweisen. Dumm nur, daß von der Antragstellung bis zur Feststellung einer Schwerbehinderung und möglicher Merkzeichen beim zuständigen Versorgungsamt etwa ein halbes Jahr vergehen kann. Die „Grusi“-Anträge müssen aber im Dezember, spätestens im Januar gestellt worden sein. Denn „Grusi“ als Sozialhilfeersatz gibt‘s erst ab Antragstellung.
Selbst chronisch Kranke, die nach der rot-grünen Rentenreform dauerhaft voll erwerbsgemindert, also nicht mindestens drei Stunden täglich verwertbar sind, müssen nachweisen, daß die Behebung ihrer vollen Erwerbsminderung „nicht wahrscheinlich“ ist. Das geht ganz einfach durch einen unbefristet gültigen Rentenbescheid. Rot-Grün hat jedoch auch für „HIVchen“ die Regel eingeführt, daß Erwerbsminderungsrenten grundsätzlich nur noch befristet gewährt werden. Wer von den tödlich Erkrankten also nicht durch Spontanheilung als medizinisches Wunder in die Fachliteratur eingegangen ist, könnte ganz schnell prüfen, ob bei befristetem Rentenbescheid die Widerspruchsfrist noch gültig ist, Widerspruch gegen die unbegründete Befristung einlegen und im Ablehnungsfall vorm Sozialgericht klagen. Sonst heißt’s womöglich: Pech gehabt!

Wer schließlich zu den glücklichen 5 bis 10 Prozent zählt und trotz Niedrigrente plus „Grusi“ zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig bekommt, darf sich zusätzlich weiterhin mit dem Sozialamt beschäftigen: Für Gehbehinderte ein klasse Mobilitätstraining. Übrigens: Der „Grusi“-Bescheid gilt maximal ein Jahr. Danach muß alles wieder von vorn beantragt werden. Wie wär‘s also mit der Anschaffung einer Wiedervorlagemappe? Oder das nächste Mal lieber doch links wählen? Hilfsweise bleibt noch das „sozialverträgliche Frühableben“ als Selbstschutzprogramm.

In der Zwischenzeit, so Ragnar Koenig vom Sozialverband Deutschland (SoVD), überlegt der Forschungsbegleitende Arbeitskreis zum BMA-Forschungsvorhaben Begleitende Untersuchung zur Einführung und Umsetzung der „Grusi“ bei Bundessozialministerin Ulla Schmidt (SPD), ob und wie vorgenannte Schwachstellen des Gesetzes vielleicht geändert werden könnten. Es bleibt also auch für Besserverdienende spannend.

Ortwin Passon