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Stolpersteine


Berlin-Kreuzberg. Aus der Markthalle am Marheinekeplatz kommend, wird gelegentlich jemand über die drei Männer stolpern: Max Tarrasch, Jahrgang 1885, wohnte zuletzt im Haus Nr. 4. Zu Tode kam er am 6. Mai 1943 in Berlin. Das Leben Willi Weinbergs, geboren 1915, endete am 18. Januar 1942 in Potsdam. Wo mag sein jüngerer Bruder Werner am 20. August 1944, erst zwanzigjährig, in den Freitod gegangen sein? Beide wohnten in der Mittenwalder Straße 30.

Meist liegen einzelne der zehn mal zehn Zentimeter messenden Messingplatten vor den letzten Adressen der Ermordeten. Bilden drei oder mehr einen Block, wurde wohl eine jüdische Familie „geholt“. „Holen ist in philologischer Hinsicht eng verwandt mit melden“, schreibt Viktor Klemperer in seiner „LTI“. In der Sprache des „Dritten Reiches“ habe das Wort einen „Spezialsinn“: unauffällig fortschaffen. „Die Verwandtschaft von holen und sich melden innerhalb der LTI besteht darin, daß zwei folgenschwere und grausame Vorgänge unter farblosen und alltäglichen Benennungen versteckt werden, und daß andererseits diese Geschehnisse so abstumpfend alltäglich geworden sind, daß man sie eben als alltägliche und allgemeinübliche Vorgänge bezeichnet, statt sie in ihrer düsteren Schwere herauszuheben.“ Worüber Klemperer nicht schreibt, ist „gemeldet werden“. Es hat auch in dieser Gegend Blockwarte gegeben und Volksgenossen, die auf Eigentum oder Wohnung ihrer Nachbarn spekulierten und kleine Nazis, die aus Überzeugung „meldeten“.

Seine ersten „Stolpersteine“ setzte der 1947 in Berlin geborene Künstler Gunter Demnig Anfang der 90er illegal in Köln, in Berlin erstmals 1996 in der Oranienstraße. Amsterdam, Mailand, Bremen, Rostock zogen nach. In Friedrichshain-Kreuzberg kann man aktuell auf 220 stoßen; etwa vor den Häusern Naunynstraße 46, Hornstraße 23, Adal-bertstraße 96, Bevernstraße 3, Planufer 90, Ritterstraße 61 und Oranienstraße 145. Zuerst freilich hatte Demnig die Hauptopfergruppe im Auge: „Von dem ehemals lebendigen jüdischen Leben in Kreuzberg ist nicht viel übrig geblieben“, zitierte der Tagesspiegel am 2. Juli 2000 Hermann Minz vom BVV-Ausschuß für Kultur und Bildung. Der Leiter des Kreuzberg-Museums, Martin Düspol, sprach damals von rund 1300 Juden, die vor 1933 im Bezirk lebten. Immer mehr Schicksale werden rekonstruiert. Heike Naumann, Leiterin des Projekts, gab vor einem Monat die Zahl von 1418 jüdischen Opfern allein in Kreuzberg an. Die Allgegenwart des Verbrechens wird einem drastisch bewußt, fragt man für die eigene Adresse in einer nicht sehr langen Straße nach: Leute „geholt“ haben Kripo, Gestapo und SS aus dem Nachbarhaus, aus zweien der Häuser gegenüber sowie dem Gebäude, an dessen Stelle Kaiser’s Supermarkt steht.

Widerstandskämpfer stehen derweil ebenso in den Listen wie „vergessene“ Opfer. Sinti oder Roma waren bisher nicht zu ermitteln, aber dank des Behinderten-Aktionsbündnisses „Blaues Kamel“ elf Euthanasieopfer. Am 2. Juli sollen laut Pressemeldungen erste Steine für Männer mit dem rosa Winkel am Mehringdamm 31 und der Friesenstraße 18 verlegt werden. Welch’ Aberwitz, daß die Beforschung jener im heutigen Großbezirk schätzungsweise 20 bis 30 als Homosexuelle Umgebrachten einer ABM-Kraft obliegt, die sich um das in der Schwulenpresse übliche Genre „rassistischer Kriminalreport“ verdient gemacht hat. Der Journalist Jens Dobler, Propagandist und Profiteur enger Zusammenarbeit bürgerlicher Homovereine mit dem Repressions- und Überwachungsapparat, denunzierte 1998 ein Buch, das vor Einfallstoren für rechtes Gedankengut in der schwulen Szene und volksgemeinschaftlichen Aspekten „schwuler Bürgerrechtspolitik“ warnte, unter dem Titel „Antifa-Phantasien“. Nicht in der neofaschistischen Jungen Freiheit, sondern einer Homo-Anzeigenpostille, die nach dem bekanntesten Berliner Kriegerdenkmal benannt wurde: Siegessäule. Das unsere Zeitschrift editierende whk hat die Patenschaft über den Stolperstein für einen im KZ ermordeten Rosa-Winkel-Häftling beantragt. Am 22. April teilt die Projektleiterin mit, man kenne noch keine Adressen von Rosa-Winkel-Häftlingen aus Friedrichshain-Kreuzberg, diese müßten erst recherchiert werden. Eine Nachfrage beim Schwulen Museum ergibt das Gegenteil: Unlängst sei dem Projekt eine längere, aufwendig aus historischen Dokumenten ermittelte Liste mit Namen und Wohnadressen ermordeter „175er“ im Bezirk zugearbeitet worden, so Mitarbeiter Karl-Heinz Steinle.

Das whk hakt abermals bei Frau Naumann nach. Am 29. April sendet sie ein Fax: „Die von Ihnen benannten Listen, die Herr Dobler vom Schwulen Museum erhalten hat, waren nicht vollständig und auf dem neuesten Forschungsstand. Es benötigt sehr aufwendige Recherchen, um diese Listen zu vervollständigen. Diese Arbeit wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen.“

Dem Fax hängen „Angaben zu einem homosexuellen Opfer“ an, des – im Original ohne distanzierende Anführungszeichen – „umtriebigen Homosexuellen“ Fritz Dubinski, zuletzt wohnhaft Breslauer Straße 23, gestorben nach schweren Mißhandlungen im Haftkrankenhaus Moabit am 3. Januar 1945. Die biographische Notiz zu Fritz Dubinski mutet dem whk, das Nazi-Opfern, nicht Tätern gedenken will, weit mehr zu als den übernommenen NS-Polizeijargon: „Er war Wachdienstmann in einem Zwangsarbeiterlager im Grunewald."

Eike Stedefeldt