Schleiertanz
"Leben heißt frei sein" unter diesem Motto beging Mitte
Oktober in Berlin die Frauenrechtsorganisation terre des femmes ihr
zwanzigjähriges Bestehen. Obwohl an diesem langfristig angekündigten
Kongreß über 400 Frauen teilnahmen viele von ihnen Expertinnen
in Sachen Menschenrechte , waren keine VertreterInnen der Politik anwesend.
Nicht einmal Grußworte sandten sie. Auch die Presse hielt sich im Anschluß
auffällig bedeckt. Warum? Vieles von dem, was dort unter der Prämisse
"Frauenrechte sind Menschenrechte" vorgetragen wurde, klang so ganz
anders als das, was die Meinungsmacher besonders in letzter Zeit der Öffentlichkeit
präsentieren.
Mina Ahadi etwa, Koordinatorin des Internationalen Komitees gegen Steinigung,
gab eine Erklärung ab zu islamischem Terrorismus und der Problematik
der Frauen in jenen Ländern, deren Gesellschaften und Staatswesen stark
vom Koran geprägt sind. Darin konstatierte sie: "Den Frauen werden
in den islamisch regierten Ländern seit vielen Jahren jegliche Rechte
aberkannt. Dieser Situation muß ein Ende gesetzt werden. In vielen islamisierten
Ländern wie Iran und Afghanistan gibt es eine für Freiheit und Gleichberechtigung
kämpfende Frauenbewegung. Auf diese Bewegung muß gebaut werden,
um die Situation der Frauen in eine säkulare und menschliche Richtung
lenken zu können. Der Sturz des Taliban-Regimes steht unmittelbar bevor,
aber vom Westen werden die Mudjaheddin von der Nordallianz als mögliche
Nachfolger in Betracht gezogen. Die Nordallianz ist genauso religiös,
fanatisch und frauenfeindlich wie die Taliban. Die weltweite Vereinigung von
Frauenrechtsaktivistinnen und Frauenrechtsorganisationen sollte die Befreiung
der Frauen vom Joch des politisierten Islam zu ihrer Priorität erklären."
Doch jene weltweite "Vereinigung von Frauenrechtsorganisationen",
sofern es sie in diesem Ausmaße denn überhaupt gibt, ist alles
andere als handlungsfähig, wenn es darum geht, in die offizielle Politik
einzugreifen. Denn dort sitzen ganz andere Leute an den Hebeln. Zuweilen nennen
sich zwar auch die schon mal Feministinnen und kommen aus zumindest
ursprünglich linken Spektren. Mit denen haben sie jedoch heutzutage,
wo es um die "Verteidigung der freien Welt" geht, nur noch insofern
etwas zu schaffen, als sie die mittlerweile sinnentleerten Worthülsen
mit neuen, konservativen Inhalten füllen.
So sprach auf dem terres-des-femmes-Kongreß eine US-amerikanische
Aktivistin, die sich gleich zu Beginn ihrer Rede von jenen Feministinnen in
den Vereinigten Staaten distanzierte, die nun gemeinsam mit George Walker
Bush die unterdrückten Frauen in Afghanistan und anderswo freizubomben
gedächten. Sie bat die anwesenden, in ihrer Mehrzahl europäischen
Frauen inständig um Unterstützung im Kampf gegen die ultrarechten
Strömungen innerhalb der Bush-Administration und des dahinterstehenden
Sicherheitsapparates.
Charlotte Bunch, Gründerin und Direktorin des "Center for Womens'
Global Leadership" an der New Jersey State University, ist seit drei
Jahrzehnten Autorin und Aktivistin der Frauen- und Zivilrechtsbewegung in
den USA. Davor war sie Mitarbeiterin des Instituts für politische Studien
in Washington, DC. Diese Frau weiß, wovon sie spricht, wenn sie davor
warnt, daß im Zuge des "Kampfes gegen den Terrorismus" vor
allem gegen linke Gruppierungen und Organisationen mobil gemacht wird und
der Ruf nach einer Politik von "law and order" letztlich alle progressiven
Stimmen zum Schweigen bringt. Genau dies ist der Fall in der heutigen Situation,
in der überall in der "freien" Welt ominöse, außerhalb
von demokratischen Strukturen agierende Geheimdienste sich ausbreiten und
kaum mehr zu kontrollierende Handhabe bekommen. In den USA sind mittlerweile
selbst die klassischen Bürgerrechte, auf welche die Nation so stolz war,
weitgehend ausgehöhlt. In den vergangenen Wochen wurden über tausend
Personen vorwiegend arabischer Herkunft festgenommen; sie werden ohne richterliche
Anordnung an unbekannten Orten festgehalten. Da der Oberste Gerichtshof derzeit
wegen der Milzbrand-Briefe geschlossen ist, konnten sie bislang nicht mal
Anspruch auf Verteidigung geltend machen. Einige mittlerweile Freigelassene
gaben an, man habe sie gefoltert. Die veröffentlichte Meinung reagierte
unisono mit einem Dementi: Dies habe Osama bin Laden für den Fall einer
Verhaftung allen islamischen Terroristen nahegelegt auszusagen. Andere Zeitungen
begrüßten die Folterungen sogar ganz unverhohlen; wenn nur ein
paar Geständnisse dabei herauskämen, seien sie sogar begrüßenswert.
Wen hatte unser Bundeskanzler eigentlich im Auge, als er meinte, "wir"
würden "unseren amerikanischen Freunden" bedingungslos beistehen?
Es sieht nicht danach aus, als wollten Gerhard Schröder und sein Außenminister
Joseph Maria Fischer, seine christdemokratischen und liberalen ParteiamtskollegInnen
Angela Merkel und Guido Westerwelle (von dem das Bundestagsprotokoll vom 13.
September das unsägliche Kaiser-Wilhelm-Plagiat "Es gibt in dieser
Situation keine Regierungsparteien und Oppositionsparteien; in dieser Situation
gibt es nur deutsche Verantwortung" notiert) angesichts solcher Zustände
die Wahl ihrer Freunde nochmals überdenken.
Und auch von einer Claudia-Die-Wurzeln- der-Grünen-liegen-auch-im Pazifismus-Roth
ist nicht zu erwarten, daß sie von der großen Koalition der Menschenrechtsbomber
abfällt; viel zu süß ist die Teilhabe an der Macht, und so
läßt sie sich vom Kanzler auch moralische Bedenken und ihre allseits
beliebten öffentlichen Tränen verbieten. Noch Ende Mai/Anfang Juni
2000 hatte die Parteichefin eine Delegation des Bundestagsausschusses für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe durch Pakistan und Afghanistan geleitet,
um sich von den Lebensbedingungen insbesondere von Frauen und Mädchen
ein Bild zu machen. Damals sah sie die einzigen Perspektiven des Westens,
den afghanischen Frauen zu helfen, noch darin, die Bevölkerung vor Ort
durch Schulprojekte und die Finanzierung von Krankenhäusern zu unterstützen.
Ein Märchen aus tausend und einer Bombennacht.
Lizzie Pricken