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Editorial


"Intersexualität sowie andere Fehl- und Mißbildungen“ lautet noch heute der typische Titel einer sexualmedizinischen Lehrveranstaltung. Die Pathologisierung sexueller und geschlechtlicher Varianten – das heißt ihre medizinische Verwertung – gehörte von Beginn an zum Geschäft jener neuen Disziplin, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts unter dem Namen „Sexualwissenschaft“ etablierte. Sie dünkte sich liberal, weil sie die „sexuelle Variabilität“ zu ihren bahnbrechenden Entdeckungen zählte. Und tatsächlich haben sich Millionen von Menschen in diesem Jahrhundert an ihrem begrifflichen Raster orientiert. Homosexualität, Transsexualität und Intersexualität bezeichnen keine ontologischen Phänomene. Sie sind aus den Ordnungsschemata jener Disziplin geschöpft, die sich oft genug mit dem Emanzipations- und – in einer weniger erquicklichen Variante – dem „Heilungsinteresse“ ihres Forschungsfeldes identifizierte. Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit lautete der vielzitierte Wahlspruch Magnus Hirschfelds.

Doch das eigentliche Interesse der Disziplin lag bei der Menschenzucht. So sahen die Herausgeber der Zeitschrift für Sexualwissenschaft 1914 „nun endlich die Zeit gekommen (...), in der die Biologie den unbestreitbaren Primat erlangt hat.“ „Rassenveredelung oder besser Menschenveredelung“ stelle sich daher als eine der großen Aufgaben der Sexualwissenschaft dar, so Iwan Bloch in seinem programmatischen Artikel, der die erste Ausgabe des Fachblattes eröffnete: „Die von Mendel entdeckten Gesetze der Vererbung (...) haben für die Sexualwissenschaft die allergrößte Bedeutung. Wie ihr Studium in der Botanik und Zoologie schon die bedeutsamsten Aufschlüsse (...) geliefert hat, so verspricht auch ihre Anwendung auf den Menschen (...) sicher in theoretischer Beziehung wertvolle Ergebnisse (...), wenn auch ihre praktische Verwertung in der sogen. ‘Eugenik’ noch in den allerersten Anfängen steht“. Und auch Bloch sah in der Ursachenforschung an Homosexuellen eines der vornehmsten Experimentierfelder seiner Disziplin: „Ich habe schon 1906 eine chemische Theorie der Homosexualität aufgestellt, die die anatomisch kaum zu erklärende Tatsache einer weiblichen bzw. unmännlich gearteten Psyche in einem typisch männlichen Körper mit normalen Genitalien aus einer embryonalen Störung der Korrelation der einzelnen Sexualhormone zu erklären versucht.“

Begriffe wie „Krankheit“, „Fehl- und Mißbildung“ oder, wie im zitierten Beispiel: jener der „Störung“ taugen dabei noch heute trefflich zur Vollstreckung wie zur Verschleierung gesellschaftlicher (Un-)Wert-Urteile. Man stelle sich, um eine Ahnung von der Abstrusität dieser nur scheinbar wertneutralen Begriffe zu bekommen, eine Gesellschaft vor, in der - wie heute Intersexualität - Männlichkeit als genitale Fehl- und Mißbildung interpretiert würde. Und genau diese für eine positivistische Wissenschaft so verwunderliche Mischung zwischen Wert- und Seinsurteilen bezeichnet auch heute noch die für die Sexualwissenschaft so prägende Überschreitung der Grenze zur Hochstapelei. Dabei ist zwischen den im Sinne des erwarteten „Heilungserfolgs“ sinnlosen Hodentransplantationen an Homosexuellen durch die Ärzte Hirschfeld und Steinach bis zu den neuesten sexualwissenschaftlichen Studien über die unterschiedlichen Fingerlängen von Homo- und Heterosexuellen oder der Erkenntnis, daß sich Lesben von ihren Geschlechtsgenossinnen vor allem durch ein schlechteres Gehör unterschieden, eigentlich nur der gewachsene Grad wissenschaftlichen Wahns bemerkenswert.

Vor diesem doch befremdlichen – halb wahnhaften, halb hochstaplerischen – Hintergrund der zeitgenössischen medizinischen Sexualwissenschaft ist ein Artikel in der 1988 gegründeten Zeitschrift für Sexualforschung beachtlich. In ihm warnt Lutz Garrels Intersexuelle vor „weitere(r) Dispersion, Radikalisierung der Positionen sowie Bruch mit Ärzten und Wissenschaftlern“ und fordert statt dessen „partnerschaftliche und von gegenseitigem Respekt gegenüber autonomen Interessen getragene Zusammenarbeit mit Ärzten und Wissenschaftlern und vor allem eine konstruktive und kritische Auseinandersetzung mit dem eingefahrenen Diskurs über Geschlechtsidentität“. Doch der Bruch mit jenen irren Ärzten, die ihre Verwertungsinteressen trotz massiver Kritik an der von ihnen geübten Verstümmelungspraxis weiterhin im weißen Kittel durchsetzen und durchsetzen können, weil es sich bei ihren Opfern um Kinder handelt, ist keine Gefahr, sondern mehr als überfällig.

Georg Klauda