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Deutschland im Herbst


Deutschland im Herbst: Eine Ausstellung über den Vernichtungskrieg der Wehrmacht wird ohne nennenswerten Widerstand geschlossen. In der Nacht vor dem “Tag der deutschen Einheit” werden auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee 103 Grabsteine beschädigt oder zerstört. Ein Steinmetz, der unentgeltlich bei der Reparatur der Grabsteine geholfen hat, bezahlt dafür mit einem Vergeltungsanschlag, der einen Schaden von 80.000 DM und wahrscheinlich seinen Ruin zur Folge hat. Deutsche Firmen, die ihre heutige Stellung nicht zuletzt einer gnadenlosen Ausbeutung von Sklaven – in der deutschen Presse euphemistisch “Zwangsarbeiter” oder noch schlimmer: “Fremdarbeiter” genannt – während des Weltkrieges verdanken, weigern sich, mehr als 8 Milliarden DM an ihre noch lebenden 900.000 Opfer zu zahlen. Das Zweite Deutsche Fernsehen porträtiert deren jüdischen Anwalt in seiner Hauptsendung als „die in dieser Angelegenheit einflußreichste Person in New York“.

Seit Jahrzehnten gehört die Beschwörung „einflußreicher“ jüdischer Kreise, vor allem in den USA, zu den klassischen volkstümlichen Denkmustern des Antisemitismus. Zu glauben, sie sei auf rechte Kreise oder Sender beschränkt und würde unter Schwulen nicht existieren, ist allerdings eine fromme Illusion. In der bis jetzt umstrittensten Gigi, der Antisemitismus-Ausgabe vom Sommer dieses Jahres, wurden die Versuche homophiler Funktionäre analysiert, auf Kosten der jüdischen Nazi-Opfer Identitätspolitik zu betreiben. Gespräche, die sich an jenem Heft entzündeten, haben gezeigt: Die Auffassung, das Berliner Mahnmal solle alle Opfergruppen gleichberechtigt auf eine Stufe stellen, ist nicht nur ein Steigbügel für einige wenige selbsternannte schwule Meinungsführer zur Durchsetzung ihrer Interessenpolitik. Vielmehr scheinen viele Schwule überzeugt zu sein, die Juden seien jahrzehntelang unverdient die mächtigste Opfergruppe des Nationalsozialismus gewesen. Dies ist aber keine wirkliche Überraschung. Warum sollten sie als Bestandteil der Volksgemeinschaft nicht deren strukturellen Antisemitismus teilen? Oder, wie es Felix Rexhausen in seinem in der vorliegenden Ausgabe rezensierten Buch formuliert hat: „Deutsche Schwule sind eben auch bloß Deutsche.“ Gerade deshalb ist es so absurd, daß sie sich mit den jüdischen Opfern in einem gemeinsamen Mahnmal wiederfinden wollen. Die Trennung in Homosexuelle einerseits und Faschismus, Rassismus und Antisemitismus andererseits ist illusorisch und historisch falsch.

Dies kann alles in der August-Ausgabe nachgelesen werden. Die Reaktionen auf diese Ausgabe waren übrigens – wie zu erwarten war – enttäuschend und irritierend substanzlos: Was fehlte, waren Argumente, die auf die erhobenen Vorwürfe antworten würden. Nicht mal in Ansätzen vorhanden war eine Abstraktion der Protagonisten von der eigenen Person und ein Verständnis für übergeordnete antisemitische Denk- und Verhaltensweisen in diesem Land, von denen schwule Identitätspolitik nur ein kleiner Ausdruck ist.

Eike Stedefeldt