Unlängst
war in Berlin eine Ausstellung über Frauen zu sehen, die größtenteils
noch im letzten Jahrhundert geboren wurden, aber mit ihren Ideen das Heute
maßgeblich mitgeformt haben. Zu diesen Pionierinnen des neuen Zeitalters
gehörten Schriftstellerinnen, Schauspielerinnen und Fotografinnen, aber
auch Pädagoginnen, Ärztinnen und politisch Engagierte. Viele kamen
aus modern eingestellten jüdischen Mittelklassefamilien, die sich um
die Jahrhundertwende in Berlin niedergelassen hatten, und nutzten ihre Chance
in dieser relativ liberalen Stadt lange vor den "wilden Zwanzigern".
Eine
ähnliche Geschichte gleiche Zeit, anderer Ort beschreibt
Elana Dykewomon in ihrem Roman "Sarahs Töchter". Es geht darin
um das Schicksal einer jüdischen Familie, die aus dem damaligen Russland
in die USA auswandert. In New York sind sie zwar vor Pogromen sicher, aber
das Leben ist alles andere als einfach, vor allem im Arbeitermilieu und für
die lesbisch lebenden Hauptfiguren. Lizzie Pricken sprach mit der Autorin.
Elana,
du hast fast zehn Jahre an diesem Buch geschrieben. Warum hat es so lange
gedauert?
Der
Originaltitel von Sarahs Töchter ist Beyond the Pale und bezieht sich
auf die Grenze der von Katharina der Großen innerhalb Russlands gezogenen
Distrikte (Pales), welche die dort angesiedelten Juden nicht überschreiten
durften. In diesem Falle geht es also um das Überschreiten der den Juden
gesteckten Grenzen, physisch und symbolisch. Die Idee zu dem Roman kam mir
zum ersten Mal im Jahre 1987 in Form eines Gedichts von Chava, einer der Hauptpersonen
meiner Geschichte. In diesem Gedicht trauert sie um ihre verlorene Geliebte.
In diesen zehn Jahren hatte ich einen Dreiviertel-Zeit-Job und zusätzlich
noch die Herausgeberschaft der feministischen Zeitschrift Sinister Wisdom
übernommen. Ich ging also erst einmal in die Bibliothek und versuchte
herauszufinden, woher diese Frau ursprünglich gekommen sein mochte. Von
dieser Basis aus erfand ich die Geschichte ihrer Familie und nicht zuletzt
ihre eigene. Ich schrieb sie binnen fünf Jahren in vier Teilen.
Wenn
man sich ganz auf die Figuren in einer Geschichte konzentrieren will, braucht
man Zeit zum Alleinsein. Mir ging es jedenfalls so. Für die meisten von
uns ist das ein echter Luxus, und ich hatte das Privileg, mir diese Zeit nehmen
zu können. Natürlich brauchten auch die Nachforschungen über
die Lebensbedingungen der Menschen damals viel Zeit. Dabei haben mir meine
Lebenspartnerin und viele Freunde geholfen. Wir mussten ja alles genau recherchieren,
angefangen von der Heilkräutermedizin bis zu dem Zeitpunkt, an dem die
Radiergummis auf die Stifte kamen.
Was
bedeutet es für dich, über jüdische lesbische Geschichte zu
schreiben?
Für
mich ist dies ein Buch über meine Vorfahren nicht im Sinne von
Blutsverwandtschaft, sondern über die jüdischen Lesben vor mir.
Eines Tages, als ich mich in der nordamerikanischen Frauenbewegung umsah,
bemerkte ich, wie viele jüdische Lesben sich dort einbringen mit Kraft
und Liebe. Da dachte ich plötzlich: Wir sind ja hier nicht aus dem Boden
gewachsen und selbst wenn wir uns dessen nicht bewusst sein mögen, so
haben wir doch unsere Wegbereiterinnen. So ist dieses Buch eine Spurensuche
nach diesen "Vormüttern". Ich hatte das Glück, viele von
ihnen zu finden, nicht nur die, die ich in der Geschichte "erfunden"
habe, sondern alle engagierten jüdischen Aktivistinnen in der Arbeiterinnenbewegung
in der progressiven Zeit am Anfang des Jahrhunderts. Dieses Buch zu schreiben
hat mir ein tieferes Verständnis darüber gegeben, was es bedeutet,
eine weltliche jüdische Lesbe zu sein.
Das
Buch erschien vor zwei Jahren in den USA. Es hat nicht nur eine explizite
politische Botschaft, sondern provoziert auch die orthodoxe jüdische
Gemeinde. Wie haben die Leute dort darauf reagiert?
Ich
habe Freunde, die die lesbischen und schwulen Synagogen in San Francisco,
L.A. und New York frequentieren. Es wurden auch schon Lesungen von mir von
diesen Synagogen gesponsert. Ich habe allerdings keine Ahnung, wie die Orthodoxen
mein Buch aufgenommen haben; meine Vermutung ist, dass sie es komplett ignoriert
haben. Soweit ich weiß, wurde es nur von einer der jüdischen Mainstreamzeitungen
in San Francisco rezensiert. Meine eigene Erfahrung hat hingegen gezeigt,
dass es älteren jüdischen Frauen, heterosexuellen Frauen über
Sechzig, die das Buch von ihren Töchtern bekommen haben, sehr gut gefallen
hat. Die Reaktionen der jüdischen lesbischen Community und der lesbischen
Community allgemein war äußerst positiv, und das Werk hat viele
gute Rezensionen bekommen.
Und
nicht zu vergessen: den "Lambda Literary Award".Eines der Grundthemen
der Geschichte scheint zu sein, dass die jüdischen Familien innerhalb
ihrer Gemeinschaft eher isoliert bleiben und dass auch kaum Kontakt zu anderen
kulturell unterdrückten Gruppen besteht, auch nicht auf der individuellen
Ebene. War das typisch für die MigrantInnen, besonders die jüdischen
aus Osteuropa?
So
wollte ich das nicht darstellen. Was ich zeigen wollte war vielmehr, dass
die jüdischen Frauen, die aus osteuropäischen und russischen Ghettos
kamen, gerade über die US-workforce und über die politische Arbeiterbewegung
Allianzen mit Vertreterinnen anderer Kulturen schlossen. Die Frauengewerkschaft
war eine der bemerkenswertesten Errungenschaften in dieser Hinsicht, da sie
klassen- und kulturübergreifend arbeitete. Als ich diesen Teil unserer
Geschichte nachforschte, kam es mir vor, als hätten wir selbst in den
70er Jahren ein Spiegelbild dessen versucht. Natürlich blieb die erste
Generation der Einwanderinnen näher an ihren Traditionen, wachsam und
vorsichtig geworden durch die brutale Unterdrückung, suchten sie Zuflucht
in der gemeinsamen Sprache und familiären Strukturen.
Es
fällt mir schwer, in dieser Frage einen leisen Vorwurf von "Clandenken"
zu überhören, etwas, das oft einen sehr negativen Beigeschmack hat
und nicht nur Juden, sondern auch anderen ethnischen Minderheiten vorgeworfen
wird, die starke soziale Bande knüpfen. In den Vereinigten Staaten hat
es zwar keine organisierten Pogrome gegen Juden gegeben, wie z.B. gegen "people
of color", aber sie sind bis heute kein sicherer Ort, weil es immer wieder
antisemitische Gewalt gab und gibt. Die Erwartungen, dass sich jeder anpasst,
ist nur der Glaube derer, die an der Macht sind und die "ihre" Kultur
für die beste und die "normale" halten, selbst wenn dieser
Glaube auf einer ganzen Reihe von Vorurteilen basiert.
Wenn
sich MigrantInnen (oder auch Ureinwohner) nicht assimilieren lassen, werden
sie angeklagt, sich isolieren zu wollen. Aber zwischen diesen beiden Polen
gibt es einen großen Bereich von kulturellem Austausch und versuchter
Ausbeutung. Ich habe gehofft, Frauen darzustellen, die, in ihrer eigenen Kultur
verwurzelt, für die Ausweitung dieser kulturellen Rollen für Frauen
gekämpft haben und dabei die Solidarität der anderen Frauen fanden.
Der
erste Teil spielt im zaristischen Russland, wo es offensichtlich einfacher
war, versteckt lesbisch zu leben als jüdisch zu sein. Es gibt in dem
Buch eine jüdische Frau, Davida, die als Mann durchs Leben geht. Wie
kamst du auf diesen Charakter?
Nun,
es war sicher schwieriger, Jude unter Nichtjuden zu sein, aber auch unter
Juden war es nicht gerade leicht, lesbisch zu leben. Der Charakter der Davida
kam ganz von selbst zu mir, als ich die Geschichte der Hebamme schrieb. Ich
habe mich nicht für sie entschieden, sie war auf einmal da. Ich glaube,
dass die Anzahl von Frauen, die als Männer durch die Geschichte gegangen
sind, bis heute bei weitem unterschätzt wird. Es muss viele von ihnen
gegeben haben, die die Freiheit und soziale Mobilität von Männern
auch für sich gewollt haben.
Die
erste Übersetzung ist ausgerechnet in deutscher Sprache zu haben, in
dem Land, das seine eigene jüdische Geschichte fast vollkommen zerstört
hat ...
Meine
erste Geschichte Riverfinger Women ist ironischerweise auch und ausschließlich
ins Deutsche übersetzt worden. Das war in den 70er Jahren. Es
ist schon ein bisschen komisch und irgendwie unangenehm. Ich sehe das von
verschiedenen Seiten manchmal fühle ich mich wie ein exotisches
Zootier, dann wieder denke ich, dass Deutschland eine gut entwickelte und
relativ reichhaltige lesbische Bewegung hat. Viele dieser Lesben haben eine
aktive internationalistische Perspektive. Das ist alles, was ich dazu sagen
kann.
Deine
Hauptfiguren leben ihr Lesbischsein als eine Art Schutz im Überlebenskampf.
Wann wurden lesbische Beziehungen in den USA das erste Mal thematisiert?
Ich
wollte sie gar nicht als schutzsuchende Wesen darstellen, vielmehr wollte
ich zeigen, dass Lesben schon immer Gemeinschaften gesucht und gebildet haben,
auch wenn sie ihre Unterdrückung als Lesben nicht mit ihren anderen Überlebenskämpfen
in Verbindung brachten. Fast alle der im Buch Dargestellten haben oder hätten
mit der Frauenbewegung ihrer Zeit sympathisiert und viele von ihnen für
feministische Ziele gekämpft.
Wann
das Lesbischsein an sich zum ersten Mal zu einem öffentlichen Thema wurde,
ist eine lange Debatte unter Historikerinnen. Sicher ist, dass viele der Frauen,
die während der progressiven Entwicklungen am Anfang des Jahrhunderts
im Arbeitskampf aktiv waren, verspottet wurden und auch in bezug auf Jobs
und Aufträge dafür bestraft wurden, dass sie Frauen liebten. Lesben
fingen erst in den 50ern an, sich offen als Lesben zu organisieren, aber ich
glaube, dass es in lesbischen Kreisen schon viel früher diskutiert wurde.
Zum
Schluss noch eine Frage an die Aktivistin Elana Dykewomon: In Westeuropa wird
gerade die Homo-Ehe diskutiert. Was denkst du über die Institutionalisierung
von lesbischen und schwulen Beziehungen?
Einerseits
bin ich der Meinung, dass Lesben und Schwule die gleichen Rechte haben sollten
wie alle anderen auch. Andererseits ist die Ehe doch entstanden, um Besitzstände
zu wahren und hat ihre Wurzeln tief in der Abhängigkeit von Frauen gegenüber
ihren Ehemännern. Deshalb ist mir wirklich schleierhaft, warum unsere
Community auf diese Romantisierung hereinfällt. Als Aktivistin sehe ich
außerdem, dass in dem Moment, in dem ich den Staat in mein Privatleben
aufnehme, ich ihm auch automatisch einen Wert und meine Unterstützung
gebe, während ich selbst an Kraft und Macht über mein Leben verliere.
Wir müssen das schon auf so vielen Ebenen zulassen, dass es, wann immer
möglich, wichtig ist, uns dem Staat zu widersetzen.
Elana Dykewomon: Sarahs Töchter. Roman. Verlag Krug & Schadenberg,
Berlin 1999, 544 Seiten, 44 DM