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Beste Citylage


Am 25. Juni beschloß der Deutsche Bundestag die Realisierung des "Mahnmals für die ermordeten Juden Europas". In der Presse gewöhnlich zum "Holocaust-Mahnmal" verbogen, soll das Stelenfeld des US-Architekten Peter Eisenman im nächsten Jahr südlich des Brandenburger Tors errichtet werden. Nur einen Tag nach dem Beschluß wurde ausgerechnet auf dem Berliner Christopher Street Day Widerstand sichtbar: Mitte Juli bemühte der Gay Express zu dessen Rechtfertigung antisemitische Stereotypen, und im August legte das Berliner Szenemagazin Sergej nach. Von Udo Badelt und Eike Stedefeldt

Vierzig Jahre lang konnten die konservativen bis reaktionären Nachkommen der nationalsozialistischen Deutschen im Schatten des Kalten Krieges ein "Monument unserer Schande" (Martin Walser) verhindern, und nach 1989 wurde die Selbstverständlichkeit seiner Errichtung durch eine zehnjährige Debatte konterkariert. Es fragt sich, welchen Wert ein so lange nicht gewolltes Mahnmal noch haben kann – und ob eine Gesellschaft, die auch heute noch in weiten Teilen rassistisch, antisemitisch und ausländerfeindlich denkt und handelt, sich überhaupt damit schmücken darf. Zumal die Realisierung großenteils von den Opfern, ihren Nachkommen und Verbänden organisiert und finanziert wird.

Berufsschwule, Funktionäre und Wortführer der veröffentlichten schwulen Meinung interessieren sich für diese Fragen nicht. Wie auch? Ihr ganzes Sinnen und Trachten gilt der Sorge, daß wir Schwulen bei der Errichtung des Mahnmals vergessen werden könnten. Klassische Identitätspolitik betreibend, verfechten sie den historischen Status der Schwulen als gleichermaßen verfolgte Gruppe. Trägt er doch nicht allein bei zur Legitimation ihrer privaten beruflichen Existenz, sondern sichert darüber hinaus strategische Vorteile im Kampf um Bürgerrechte und erleichtert die Teilhabe am großen Kuchen Staat: Mit gesichertem Opferstatus im Rücken läßt sich eine Homo-Ehe, jede noch so marginale Antidiskriminierungsklausel viel nachdrücklicher einfordern. Die Tötung eines Menschen wird in diesem Kontext zweitrangig; wichtiger ist, welcher Opfergruppe dieser Mensch zugehörig war. So instrumentalisiert man den Massenmord für eigene Zwecke.

Das in Berlin geplante Mahnmal steht der Ausübung dieser perfiden Art von Lobbypolitik entgegen. Es war von Anfang an den Hauptbetroffenen des Hitlerfaschismus gewidmet – einer nach Millionen zählenden Gruppe schuldloser Menschen, die durch simplen Willkürakt zur "Rasse" umdefiniert, kategorisiert, vermessen und als solche der rest- und möglichst auch spurlosen Eliminierung mit industriellen Mitteln zugeführt wurde. Die Juden Europas wurden von Subjekten zu totalen Objekten degradiert und jeder Möglichkeit beraubt, sich der allumfassenden Entwertung ihres Lebens zu entziehen. – Etwas, das Schwulen oder Kommunisten, Zeugen Jehovas oder Sozialdemokraten in beschränktem Maße noch zur Verfügung stand. Es gibt bisher in Deutschland kein Mahnmal, das der Schwere des Verbrechens an den Juden auch nur annähernd gerecht würde. Wie kann man überhaupt auf die Idee kommen, ausgerechnet hier die übrigen Opfergruppen einbeziehen zu wollen? Mauthausen, Buchenwald und Sachsenhausen, wo viele Schwule umgebracht wurden, sind nicht Auschwitz, Majdanek und Treblinka!

Jürgen Bieniek, der als "Redaktion" beim Gay Express für publizistische Vielfalt sorgt, ficht das nicht an. In der Juli-Ausgabe des in Frankfurt/Main, Hamburg und Berlin verteilten Szeneblattes beklagt er ein "Monument der Ausgrenzung" – und meint damit nicht etwa die Ausgrenzung jüdischer Menschen während des Faschismus und ihre physische Vernichtung, sondern die angebliche Vernachlässigung Homosexueller bei der Konzipierung des Mahnmals. Den Artikel ziert das Foto eines Transparents, getragen auf dem letzten Berliner CSD von Männern wie Rainer Schilling, Schwulenreferent der Deutschen AIDS-Hilfe, und Albert Eckert, dem ersten offen schwulen Vizepräsidenten des Abgeordnetenhauses und jetzt Pressechef der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung: Ausgeschnittene Winkel symbolisieren jene – so die Bildzeile – "nichtjüdischen Opfer", die "beim Votum über das Holocaust-Mahnmal" durchgefallen (!) seien. Nur ein gelber Winkel ist vorhanden, der allein schon grobe Mißachtung bedeutet: Natürlich mußten jüdische Häftlinge keine gelben Winkel, sondern Davidsterne tragen. Aber wen interessieren schon die Details der Shoa, wenn es darum geht, unsere Opfer, also uns alle, mit den jüdischen auf eine Stufe zu stellen?

Derselben Anmaßung huldigt auch ein anderer Beitrag derselben Gay-Express-Ausgabe. Hervorgehoben durch einen grauen Kasten, wird in einem homophoben Zitat des jetzigen deutschen Kriegsministers "homosexuelle Minderheit" durch "Angehörige der jüdischen Glaubensgemeinschaft" ersetzt und polemisch gefragt: "Wäre Scharping noch Verteidigungsminister, hätte er sich so tatsächlich über Juden statt Homosexuelle geäußert?" Freilich nicht, denn, so der bewußt beim Leser erzeugte Folgeschluß: Die Juden werden vom Chef der Hardthöhe, also vom deutschen Staat, unverdientermaßen gehätschelt, während wir diskriminiert werden.

Dazu paßt drei Seiten weiter, im Kommentar "Monument der Ausgrenzung", ein Satz, der genau so auch in der rechtsextremen Jungen Freiheit hätte stehen können und mit dem Bieniek sein "Hinwegsehenkönnen" über jene Abgeordneten begründet, die es "nicht wagten, gegen die politische Korrektheit zu verstoßen": "Deutscher und gegen ein Mahnmal für ermordete Juden sein, das geht nicht." Schön wär’s, wenn’s ginge? – Indem er die beschlossene Gedenkstätte zum bloßen Ausdruck politischer Korrektheit, zum formalen, an sich unsinnigen, opportunen Akt herabwürdigt, begibt sich Bieniek in den Strom der von der Neuen Rechten gegen die Linke gewendeten und vom konservativen Mainstream herzlich begrüßten "PC-Debatte".

Sein Ressentiment gegen die jüdischen Opfer gipfelt indes in dem Bedauern: "Schwule und Angehörige anderer drittklassiger Opfergruppen werden sich auf dem Mahnmal-Gelände in bester Citylage nicht wieder finden können." Wir haben verstanden: Im Leben schon sind die Juden reich und bevorzugt – jetzt nehmen sie uns auch noch im Tod die besten Grundstücke weg. Da ist er wieder, der verschlagene Immobilienspekulant mit der krummen Nase. Und sein posthumes Opfer ist – "der ewige Schwule"?

Das ist ungeheuerlich. Bieniek mobilisiert antisemitische Argumentationsstränge ausgerechnet gegen jenes Mahnmal, das aller Welt die massenmörderischen Konsequenzen eben dieses unterschwelligen Antisemitismus unmißverständlich vor Augen führen soll. Indem er das uralte Zerrbild vom raffenden, Privilegien erheischenden Juden beschwört, reproduziert er genau jene mittelalterlichen und neuzeitlichen Denkmotive, die sich in Deutschland zur industriellen Ausrottung der Juden radikalisiert haben. Selbst wenn Bieniek der antisemitische Gehalt seiner Äußerungen und ihr Nutzen für die politische Rechte nicht bewußt sein sollte – wahrscheinlich sieht er sich noch als edlen Verfechter einer gerechten Sache –: Schwule Identitäts- und Interessenpolitik auf dem Rücken der größten Opfergruppe des Nationalsozialismus zu betreiben, ist nur noch widerlich.

Zu welchen Glanzleistungen bei der Kombination von antisemitischen und antikommunistischen Denkmustern die Schwulenpresse inzwischen fähig ist, beweist indes die August-Nummer des Berliner Terminblattes Sergej. Seinen vor rechter Demagogie triefenden Kommentar zum Mahnmalsbeschluß überschrieb Verlagsleiter Carsten Heider mit der larmoyant klingenden, von der Semantik her schlichtweg dummen Zeile "Schwule sterben leiser" – natürlich leiser als Juden, die heute die Chuzpe besitzen, selbst um ihre nur knapp mißlungene Ausrottung noch lautstark Aufhebens zu machen! Der Untertitel lautet in bewußter Irreführung "Kein Mahnmal für alle Opfer des Nationalsozialismus". Das war zwar nur der Gegenantrag zur Verhinderung des vom Förderkreis initiierten "Judendenkmals", ist aber Heiders Vorlage, um sein Bedauern über die Schlappe des rechten Unions-Flügels kundzutun: "CDU/CSU-Abgeordnete konnten die Forderung, das Mahnmal auch den übrigen Nazi-Opfern zu widmen, nicht durchsetzen." Wir erleben eine Premiere: Erstmals erhebt ein schwules Periodikum offen die Nationalkonservativen zur honorigen Interessenvertretung schwuler Männer – und zwar entsprechend der Sitzgeographie des Bundestages gegen die Linken, vor allem aber die Juden mit ihren elitären Ansprüchen gegenüber dem deutschen Volk. Und dem gehört in der zugrundeliegenden national-schwulen Bürgerrechtslogik eben auch die eigene "gequälte Minderheit" an, für die "auf einer zentralen Gedenkstätte kein Platz ist, nur weil die Zahl der Opfer unter ihnen nicht ausreicht". Analog zu Bieniek im Gay Express betreibt Heider in Sergej die propagandataugliche Gleichsetzung: "Auch nichtjüdische Opfer wurden mit gleicher Härte und gleichem Haß verfolgt." Doch "gleiche Härte" und "gleicher Haß" reichen nicht aus, da muß noch ein bißchen dazugeheidert werden: "Schwule wurden in den Lagern zudem oft schlechter behandelt." – Denn der Jude war selbst im KZ noch privilegiert, auch wenn das Privileg darin bestand, sofort nach Ankunft ins Gas zu dürfen.

Der Sinn des ganzen rechten Gefasels ist klar: Das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas soll als solches gekippt werden. "Noch ist die Diskussion nicht beendet", hofft Heider. Dazu, daß sie nach Ultimo wieder voll entbrennt, wird derzeit seitens der Opferrepräsentanten nur aus einer Richtung mobilisiert, und zwar der in den Schoß der Volksgemeinschaft drängenden schwulen Sachwalter. Wo man weder auf das Einsehen des Förderkreises zur Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas e.V. bauen kann, der mit Fug und Recht eine Anfrage der Sergej-Redaktion als unseriös abwies; wo einen die verschlagenen Kronzeugen von der jüdischen Lesben- und Schwulengruppe Yachad Berlin e.V. verraten, deren erster Vorsitzender das beschlossene Konzept befürwortet, da ist selbst das Mittel der offenen Denunziation nicht zu billig – sei es des Künstlers als Person oder der Gesamtaussage des Mahnmals.

"Die Gedenkstätte wird in ihren monumentalen Ausmaßen und ihrer Gestaltung – rechteckige Säulen waren ein bevorzugtes Architekturmerkmal der Nazis – eher an stalinistische Gedenkmaschinen wie in Riga erinnern." Mit frappierender Selbstverständlichkeit relativiert auch Heider den Nationalsozialismus durch die Synonymisierung mit dem Stalinismus. Der US-Amerikaner Peter Eisenman wird dank "rechteckiger Säulen" kurzerhand zum Jünger Albert Speers (nach demselben absurden Schema ließe sich Daniel Libeskinds Jüdisches Museum als Reminiszenz an die Runen der SS deklarieren), und das 1967 eingeweihte Memorial in Salaspils bei Riga, wo zwischen 1941 und 1944 im größten KZ des Baltikums 100.000 Menschen ermordet wurden (es überlebten 500), wird zur "stalinistischen Gedenkmaschine" abqualifiziert. Letzteres stinkt nach dem "verordnetem Antifaschismus", mit dem die DDR seit zehn Jahren delegitimiert wird und löst die übliche Assoziationskette aus. Getreu dem Motto "semper aliquid haeret" bleibt beim Leser einmal mehr die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung hängen. – Welche wiederum eine pekunäre Seite hat, nämlich die des jüdisch-amerikanischen Finanzkapitals. Der Geldjude, das alte Feindbild, wird eben nicht "mit Füßen getreten" wie die verfolgten Lesben, denen man laut Heider "wegen der geringen Zahl ihrer Opfer ... vielleicht einen Gullideckel in Spandau widmen" werde.

"Symbolträchtig" ist all das gewiß, wenngleich weniger im Heiderschen Sinne "für den Umgang mit den totgeschwiegenen und" – Vorsicht, Geldjuden! – "immer noch nicht finanziell entschädigten Minderheiten unter den Opfern", sondern vielmehr als Reifezeugnis der neurechten Bürgerschwulen für die Aufnahme in den Schoß der wiedererstarkten "Selbstbewußten Nation".