Die
Kunst der Überredung
Die
gekonnte Verführung des Alkibiades durch seinen Lehrer wurde neu aufgelegt.
Eine Empfehlung von Jörg Enderlein
Mitte des 17. Jahrhunderts erscheint in Venedig unter einem Pseudonym das
Buch Der Schüler Alkibiades. Es ist auf Italienisch abgefaßt
und nicht in der damals noch aktuellen Gelehrtensprache Latein, wendet sich
also an ein breiteres gebildetes Publikum. Der Titel scheint auf nichts Außergewöhnliches
zu verweisen, denn der Name eröffnet Welten. Als historische Gestalt
gehört Alkibiades zu den umstrittensten Politikern der Antike. Geschichtsschreiber
und Biographen überliefern nicht nur die politischen Ereignisse um den
Peloponnesischen Krieg, an denen er, z.T. in maßgeblicher Position,
beteiligt war; zahlreiche Anekdoten sollten seinen Charakter verdeutlichen
und waren für spätere Autoren willkommene Aufhänger für
Anspielungen, Erzählungen und Dramen. Mit Alkibiades könnte man
mühelos einen Gang durch die Weltliteratur antreten.
So
nachzulesen im Nachwort der liebevoll gestalteten zweisprachigen Neuauflage
des Buches in der Reihe Bibliothek rosa Winkel. Doch nicht so
sehr von der historischen Gestalt des Alkibiades handelt das Werk, der Buchtitel
ist nur inspiriert durch eine Jugendepisode des originalen Alkibiades: Als
junger Mann und Schüler des Sokrates versuchte dieser erfolglos, den
Philosophen zu verführen.
Im
hier vorliegenden Buch wird diese kurze Episode als Ausgangspunkt genommen,
aber mit umgekehrtem Vorzeichen: Der Lehrer Philotimos verliebt sich unsterblich
in seinen Schüler Alkibiades und versucht, ihn in einem langen philosophischen
Dialog von den allseitigen Vorzügen der mann-männlichen Liebe zu
überzeugen. Es entwickelt sich eine lange Rede und Gegenrede zwischen
Lehrer und Schüler, welche mit viel Witz und Ironie geschildert wird;
der Lehrer diskutiert so überzeugend, daß sich sein Schüler
zum Schluß nur noch den Argumenten ergeben kann.
Selten
wohl ist ein junger Mann tiefgeistiger und philosophischer zum Beischlaf überredet
worden als in diesem Dialog. Dabei sind die sich dem Leser darbietende Rede
und Gegenrede alles andere als trockener Stoff, handelt es sich doch beim
Thema um nichts Geringeres als die Apologie einer der zur Entstehungszeit
des Werkes größten Sünden des christlichen Abendlandes, der
Sodomie. Die Verbrennung Giordano Brunos lag kaum fünfzig Jahre zurück
und die Verurteilung Galileo Galileis war Zeitereignis des Verfassers. Kein
Wunder also, daß es über zweihundert Jahre dauerte, ehe die wahre
Identität des Autors Antonio Rocco gelüftet wurde.
Das
Buch ist in verschiedener Hinsicht eine spannende Lektüre: einerseits
ein ergötzliches Stück Literatur, welches in der für uns heute
skurrilen Form eines klassischen Dialogs die Überredung des Alkibiades
zum Beischlaf beschreibt, andererseits ein bemerkenswertes historisches Dokument,
da es wahrscheinlich die erste neuzeitliche Bejahung und philosophische
Begründung der gleichgeschlechtlichen Liebe darstellt.
Die Neuherausgabe dieses Werkes durch Wolfram Setz in der Bibliothek
rosa Winkel ist ein großer Gewinn als Zeitdokument europäischer
Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts wie der Geschichte der Homosexualität
in Europa. In einem nachgestellten umfangreichen Dossier findet sich ein Fülle
sekundärer Quellen, welche die Nachwirkung des Werkes auf spätere
Autoren wie de Sade darstellt. Das ausführliche Nachwort gibt einen umfassenden
Einblick in die Werkentstehung, den historischen Kontext und seine Wirkungsgeschichte.
Nicht unerwähnt bleiben soll auch die liebevolle Illustrierung der Neuedition
durch Faksimileseiten der Originalausgabe sowie Abbildungen aus einer französischen
Nachauflage des 19. Jahrhunderts.
Kurzum: Dieses Buch kann nur jedem empfohlen werden, der sich für das
Europa des 17. Jahrhunderts und speziell die Ursprünge homosexueller
Selbstbehauptung interessiert.
Antonio Rocco: Der Schüler Alkibiades. Ein philosophisch-erotischer
Dialog. Zweisprachige Ausgabe, übersetzt und mit einem Dossier herausgegeben
von Wolfram Setz in der Bibliothek rosa Winkel Bd. 26. Verlag MännerschwarmSkript,
Hamburg 2002, 256 Seiten, 14,00 Euro