Zieh
Leine, Azrail!
Murathan
Mungan gilt im westlichen Europa als Exot: Als offen homosexueller Autor,
der in seiner Literatur vorwiegend auf traditionelle Mythen und Märchen
vor allem des osmanischen Reichs zurückgreift und als einer, der sich
dezidiert politisch äußert, will er nicht so recht in das gerade
in Deutschland vorherrschende Stereotyp vom türkischen Mann als homophobem
Proll aus den hintersten Bergen passen: Ein schwuler Ästhet aus Istanbul,
vielleicht sogar ein Kommunist? Eindrücke auf einer von vier Lesungen
der Lesetour im Dezember in sammelte Dirk Ruder
Der Lesesaal
ist proppevoll. Eigentlich hätte die Veranstaltung um zwanzig Uhr beginnen
sollen, doch inzwischen ist es zwanzig nach und noch immer warten Dutzende
Besucherinnen und Besucher geduldig in einer langen Schlange vor der Kasse.
Eilig werden weitere Stühle herbeigeschafft und die Bestuhlung bis in
die Geheime Bastelecke der Kinderbücherei erweitert. Mit
derartigem Andrang haben die Veranstalter offenbar nicht gerechnet.
Liebe
Freunde der türkischen Literatur, Sie können sich vorstellen, wie
aufgeregt ich bin, eröffnet ein Mitarbeiter die Veranstaltung.
Schon einmal war Murathan Mungan in die Duisburger Bücherei gekommen,
doch 1994 fand die Lesung in wesentlich kleinerem Kreis statt. Der Redner
dankt den örtlichen Migrantenvereinen, die die Lesung ermöglicht
haben, und weist lobend auf die von der Robert-Bosch-Stiftung initiierte und
vom Unionsverlag edierte Türkische Bibliothek hin. Sechs Bände erschienen
seit Herbst 2005, mit Palast des Ostens liegen nun erstmals zum
Teil schon vor einem Vierteljahrhundert entstandene Texte von Murathan Mungan
in deutscher Sprache vor.
Die Türkische
Bibliothek hat sich viel vorgenommen: Die letzten hundert Jahre der türkischen
Literatur will die Reihe in insgesamt zwanzig Bänden abbilden. Im Schnelldurchlauf,
denn bis zum Anschluß der Türkei hat die EU-Kulturszene noch viel
nachzuholen. Das Schwergewicht des Projekts liege auf jenen Autorinnen
und Autoren, die trotz ihrer Bedeutung bislang der deutschsprachigen Leserschaft
noch nicht angemessen zugänglich gemacht wurden, heißt es
konsequenterweise in einer Information zur Edition. Mit anderen Worten: Vor
allem deutsche Verlage haben da wohl einen Trend verpennt und verschlafen
ihn offenbar noch immer. Der ehrbare Unionsverlag jedenfalls sitzt in Zürich.
Allein um Murathan Mungan lesen zu können, lohne es sich, Türkisch
zu lernen, suchte ein Rezensent noch am 29. November ausgerechnet in
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für deutsche Leitkultur, die
Peinlichkeit jahrelang gepflegter Ignoranz zu übertünchen. Doch
die Dinge sind in Bewegung geraten. Bevor Murathan Mungan und Dolmetscher
Recai Hallaç das Podium betreten, streift der Gastgeber das politisch
derzeit nicht eben wolkenlose Verhältnis zwischen der Türkei
und Deutschland. Doch habe dies heute keinen Einfluß mehr auf andere
Bereiche. Wir erleben eine Blütezeit im türkisch-deutschen
Kulturaustausch.
Dann begrüßt
der Autor das Publikum: Mehr als zehn Jahre sind seit meiner ersten
Lesung hier vergangen. Sie sind viel zahlreicher geworden! Ein Heimspiel.
Duisburgs türkische Gemeinde ist gekommen: Studenten, Taxifahrer, Hausfrauen
mittleren Alters, sogar junge Mütter mit Babies im Wickeltuch
ohne Mann. Viele haben eines von Mungans auf Türkisch erschienenen Büchern
zum Signieren dabei. Noch eine halbe Stunde nach der Lesung, als die wenigen
deutschsprachigen Exemplare längst verkauft sind, wird der Büchertisch
dicht von emsig diskutierenden Menschen umlagert sein. Doch als Mungan die
Lesung beginnt, liegt für zwei Stunden eine erwartungsvolle Stille im
Saal. Kein Handy klingelt, niemand schwatzt oder legt eine spontane Raucherpause
im Foyer ein. Nur einmal fängt das Baby zu schreien an, just als Mungan
von der merkwürdigen Einsamkeit der Männer spricht, in der es auch
in der ersten Geschichte aus dem Palast des Ostens geht: Ökkes
und Cengâver.
Die Geschichte
beginnt so: Am östlichen Mittelmeer: die Berggipfel des Taurus
in der Umarmung des Meeres. Der Himmel darüber gehört den Vögeln
(ihre Flügel verdunkeln die Sonne). Die Natur ist hier so groß
wie das Schicksaal der Menschen. Es gibt Sterne, die Karawanen ins Verderben
führen, es gibt blutige Rituale, Pferde, und es gibt Ökkes (sprich:
Ökkesch) und Cengâver (Dschenn-gjaa-wehr). Die Jungen an der Schwelle
zum Mannsein verbindet eine seltsame Sehnsucht zueinander, aber dies ist nicht
Brokeback Mountain, und die der Tradition mündlicher Überlieferung
entspringende östliche Erzählweise folgt anderen narrativen Regeln
als das US-Cinema. Im Osten werden Geschichten erzählt, im Westen
werden Geschichten konstruiert, beschreibt Mungan den Unterschied. Ich
bin ein Geschichtenerzähler. Mein Ziel ist, daß Sie am Ende sagen:
Ach, wie schön hat der erzählt!
Viele von
Mungans Geschichten gehen von tradierten Märchen oder Mythen aus, die
ich mit meinen Themen und Problemen anreichere. Damit schreibe ich die Geschichten
neu. Niemand kann behaupten, daß dieses Neuschreiben alter Geschichten
einfacher wäre, als ganz bei Null anzufangen. Was mich als Schriftsteller
interessiert, sind die alten Geschichten mit den Blutungen und Verblutungen
unserer Zeit. Ausgangspunkt der Geschichte Ökkes und Cengâver
die, als erste und einzige von Mungans Erzählungen, bereits vor
Jahren in einer Anthologie türkischer Autorinnen und Autoren in deutscher
Übersetzung veröffentlicht wurde ist ein altalevitisches
Initiationsritual, bei dem befreundete junge Männer bis zur Bewußtlosigkeit
gegeneinander kämpfen müssen. Die Geschichte handelt von Wettkampf,
Gefühl, Liebe suchen Sie sich aus, wie Sie es benennen möchten.
Er habe sie nach dem türkischen Militärputsch vom 12. September
1980 geschrieben. Eine schmerzensreiche Zeit, nicht nur für mich.
Das Publikum applaudiert.
Wenn Mungan
seinen Part gelesen hat, trägt Dolmetscher Recai Hallaç eine andere
Textpassage auf Deutsch vor. Weil wir bei den Lesungen gemerkt haben,
daß die Mehrheit des Publikums zweisprachig ist, sagt Hallaç.
Wenn Sie kein Türkisch verstehen, können Sie sich an der Sprachmelodie
erfreuen. Die zweite vorgetragene Geschichte ist auch die zweite im
Buch: Dumrul und Azrail. Wieder eine traditionelle Sage. Azrail,
der islamische Todesengel, fordert Dumruls Leben. Dumrul bietet dem Todesengel
statt dem eigenen das Leben von Vater, Mutter oder Geliebter an doch
die wollen sich partout nicht opfern. Bis hierhin gleichen sich Sage und Mungans
Neufassung. Wie letztere dann doch anders endet, will Mungan nicht verraten.
Wenn man eine alte Geschichte neu erzählt, hat das bestimmte Gründe.
Zum Beispiel die Beziehung von Vater und Sohn, die ein Thema in jeder Kultur
ist. In patriarchalen Gesellschaften allerdings ist die Rolle des Vaters noch
schwerer beladen, als in anderen Gesellschaften. Aus der Weigerung von
Dumruls Mutter, ihr Leben zu geben, könne man im Subtext vieles
herauslesen in dieser Zeit des Postfeminismus. Und: In Gesellschaften,
wo Sterben und Tötenlassen endlich ersetzt werden durch Lebenlassen,
werden solche Märchen sicher ganz anders erzählt werden.
Plötzlich
hebt Mungan den Kopf und fragt: Langweilen Sie sich? Die Leute
lachen und applaudieren. Dann folgt ein Ausschnitt aus der letzten Erzählung
des Palast-Bandes, Der Großwesir und sein Bote.
Eine Geschichte, an der Mungan sehr gern und sehr lange gearbeitet
habe. Viele Autoren erzählen in ihrer Literatur von den großen
Figuren, den Helden oder den Verrätern. Ich ziehe es vor, in meinen Geschichte
die Perspektive der Namenlosen einzunehmen. Die eines jener historisch
verbürgten taubstummen Boten etwa, mit denen Herrscher des osmanischen
Reichs geheime Depeschen sandten. Die Boten konnten weder lesen noch
schreiben und bei Gefangennahme keine Geheimnisse preisgeben. Das Geheimnis
des Munganschen Boten: Der Bote liebt den Großwesir so sehr, daß
er ihn nie verraten würde. Aber der Bote ist stumm und wird es
dem Großwesir nie sagen können.
In vier deutsche
Städte Mannheim, Köln, Stuttgart und Duisburg hatte
die vom Unionsverlag vorzüglich organisierte Lesereise den in Istanbul
lebenden Boten Mungan zwischen dem 4. und 8. Dezember entsandt.
Dazu kam am Nachmittag vor der Duisburger Lesung ein Besuch bei Kitap
Fuari, der deutsch-türkischen Buchmesse an der Universität
Essen. Als unbestrittenen Höhepunkt der diesjährigen Veranstaltungsreihe
Ein Blick zu andern Ufern hatte auch der sie organisierende und
seit Jahren mit der Stadtbibliothek kooperierende Verein Homosexuelle
Kultur Duisburg (HoKuDu) die Lesung im Programmheft angekündigt.
Vergeblich: Deutsche Homos gehen nicht zu Lesungen türkischer Autoren.
Identitätspolitik ist ein Konzept unserer Tage, das sehr zurückhaltend
benutzt werden sollte, so Murathan Mungan bereits 1999 in einem Interview.
Alle Formen von Identität, seien sie ethnischer, nationaler, religiöser,
sexueller oder anderer Art, können mit der Zeit zu Gefängnissen
werden. Als Europäer wolle er sich deswegen auch nicht fühlen,
lieber als Weltbürger.
Die Veranstaltung nähert sich dem Ende. Wir haben ein Fenster vom Palast des Ostens aufgestoßen und hineingeschaut, sagt Mungan und bedankt sich für die Aufmerksamkeit. Es dauert lange, bis alle Bücher signiert sind. In die deutschen Ausgaben schreibt Mungan auf Türkisch: Von der ersten Türe des Palastes Hallo!
Murathan Mungan:
Palast des Ostens. Aus dem Türkischen von Birgit Linde und Alex Bischof,
mit einem Nachwort von Birte Sagaster. Unionsverlag, Zürich 2006,
253 Seiten, 19,90 Euro
Mehr über den Autor im
Internet unter www.murathanmungan.com. Infos zur von Erika Glassen und Jens
Peter Laut im Züricher Unionsverlag herausgegebenen Türkischen Bibliothek
finden sich unter www.tuerkische-bibliothek.de