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Zeichen der Erregtheit

Mit mehr oder weniger nackten Tatsachen machten in den vergangenen Wochen drei Museen in Nordrhein-Westfalen auf sich aufmerksam. Eigentlich keine schlechte Idee, müssen doch in Zeiten der Wirtschaftkrise auch die Tempel der Kunst sehen, daß die Hütte voll wird. So präsentierte das Archäologische Museum in Münster „Sex in der Antike“, widmete sich Herford mit „Loss of Control“ künstlerischen Grenzgängen und warf Düsseldorf verbotene Blicke auf begehrente Körper. Mancherorts hatten die Ausstellungsmacher allerdings aus Sorge ums Gemeinwohl fragwürdige Schikanen eingebaut. Durch ge-fakte Schlüssellöcher linste und in blickdichten Vorhängen verhedderte sich Dirk Ruder

"Ein riesiger nackter Arsch und zwei ziemlich heitere Studentinnen. Solche Fotos gibt es nicht oft in der Zeitung. „Prüde Antike? Von wegen. Die Studentinnen Sonja und Julia blicken im Archäologischen Museum in Münster auf das Hinterteil einer Gips-Skulptur des Herakles“, warb das Blatt für die Ausstellung „Sex in der Antike“, die Einblicke in das Leben der Römer und Griechen versprach. Auf dem Universitätsgelände in Sichtweite des Münsteraner Doms eingerichtet, war die Ende Januar beendete Präsentation Teil des seit vergangenem Sommer laufenden Kulturfestivals „UniArtMünster 2008“. Zu dessen Highlights gehörten Referate wie das von Prof. Dr. Reinhold Zwick zu „Obsessionen im Bibelfilm“ am Beispiel von Cecil B. De Milles Streifen „Samson Deliah“ (USA 1949). Auf so ein Thema muß man kommen. Andere hochkarätige Vorträge widmeten sich unter anderem der katholischen Sexualmoral „als Konfliktfeld“, der Pornographie im Strafrecht, ritualisiertem Sex im Tantrismus oder Verhaltens- und Reproduktionsstrategien bei Münsterschen Meerschweinchen und anderem Getier.

Angesichts der Vielfalt der Themen möchte man die Veranstalter aufrufen, der Kulturstiftung der örtlichen Sparkasse schnell noch ein paar Tausender für einen ausführlichen Katalog aus dem Kreuz zu leiern, der nicht nur sämtliche Vorträge sammelt, sondern auch den umfangreichen Informationen ausreichend Platz einräumt, die die Ausstellung über das Sexleben von Griechen und Römern lieferte. Denn bei der in einen bei weitem zu kleinen Museumsraum gestopften Schau gab es mehr zu lesen als zu gucken. Sah sich die Museumsleitung etwa wegen der Sichtweite zum Dom veranlaßt, einige „Sicherungen“ einzubauen, um die öffentliche Ordnung nicht durch allzu freizügige Darstellungen zu gefährden? So waren großformatige Fotos von griechischen Gefäßen mit erotischen Motiven tatsächlich hinter Milchglasscheiben weggesperrt. Wer beispielsweise die beeindruckende antike Darstellung eines mann-männlichen Geschlechtsakts auf dem berühmten „Warren Cup“ in voller Schönheit betrachten wollte, mußte einige Verrenkungen vollführen. Denn die Schlüssellöcher, die – immer auf sicherer Distanz zum Objekt – den eingeschränkten Blick durchs Milchglas gewährten, waren ungefähr auf Bauchnabelhöhe angebracht. Wer durchguckte, fühlte sich automatisch schlecht und schuldig.

Von der für ein Museum etwas eigenwilligen und ein aufgeklärtes Publikum eher demütigenden Präsentationsform hinter Münsteraner Milchglas abgesehen, glänzte die Ausstellung jedoch durch umfassende Einführungstexte und große Liebe zum Detail. Zu den ältesten Objekten der Ausstellung gehörten die aus dem zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung stammenden Siegel mit Koitus-Darstellungen, die auf dem Gebiet des heutigen Afghanistans und Usbekistans gefunden wurden. Aus westfälischem Privatbesitz stammte eine winzige Darstellung zweier liebender Frauen, von denen die eine einen ledernen Dildo umgeschnallt hat – solche Szenen seien „bisher in der griechisch-römischen Kunst unbekannt“, erläuterte die Texttafel. Daß bei griechischen und römischen Trinkgelagen Gefäße zum Einsatz kamen, die der weiblichen Brust nachgebildet waren, verweist indes nicht auf eine mögliche Gleichheit der Geschlechter in der Antike, sondern auf patriarchale Strukturen, die sich bereits seinerzeit bis hinein in die Mythologie durchgesetzt hatten. Die in der Ausstellung an einer Stelle als „Mischwesen“ bezeichneten mythologischen Satyrn sind somit nicht etwa als frühe Formen eines „Dritten Geschlechts“ zu interpretieren, sondern als Sinnbild männlicher Macht über die Frau. „Satyros“ bedeutet „der das weibliche Geschlecht Greifende“.

An eben diese Ideen knüpfte „Loss of Control“ im neueröffneten Herforder Marta-Museum an. Im Zentrum der Ausstellung über „Obsession, Sexualität, Wahn und Tod“ stand der belgische Symbolist Félicien Roeps (1833-1898). Als Maler, Lithograph, Zeichner, Illustrator und Graveur habe Roeps stets „die Tabukultur der Bourgeoisie in ihren narzistischen Hang zum ‘schönen Schein’“ provoziert und „bewußt alle damals geltenden Regeln der Scham“ überschritten: „So erscheint die Frau in Roeps Werken als dämonische und machtvolle Figur, aufgeladen mit satanischen und sexuellen Bezügen, formulierte sie die dekadenten Lüste der Bourgeoisie.“ Das Tableau vervollständigten Kunst aus der Psychiatrie („Anstaltskunst“) und Art Brut. Der „Schock als ästhetisches Erlebnis“ (Museum) mußte von den Besuchern jedoch teilweise regelrecht erkämpft werden: Hoet ließ einige von Roeps’ Grafiken vorsichtshalber hinter schweren, nahezu unbeweglichen Samtvorhängen verschwinden. Der Ausstellungskatalog offenbarte jedoch, was den Künstler zu Lebzeiten umtrieb. „Ich verbringe die Tage damit, mich zu beherrschen, und spüre eine wilde Lust, mit einem Kopfstoß die Ketten der Konvention zu zerbrechen“, schrieb Roeps, der sich „weit von der ‘anständigen Welt’ davonmachen“ wollte, „um endlich ein Leben in Erregung und Bewegung zu leben“.

Keine Vorhänge, dafür aber Warnhinweise erwarteten hingegen das Publikum der Schau „Diana und Actaeon – Der verbotene Blick auf die Nacktheit“ – und zwar vor jedem einzelnen Ausstellungsraum des Düsseldorfer Museums Kunst Palast. „Der griechische Mythos erzählt die Geschichte vom Jäger Aktaion, der, nachdem er die nackte Artemis im Bade überrascht und betrachtet hatte, von ihr zur Strafe in einen Hirsch verwandelt und danach von seinen eigenen Hunden zerrissen wurde.“ Bei den Römern wandelten sich die Namen der beiden Charaktere – Aktaion zu Actaeon und Artemis zu Diana. Fürs intellektuelle Upgrade sorgte später Giordano Bruno, der die antike Schuld-und-Rache-Geschichte in seinem Werk „Von den heroischen Leidenschaften“ (1585) zu einem Motiv der Aufklärung machte. Anders als Ovid interpretierte Bruno die Figur des Acteon nicht als die eines zufälligen Beobachters, „sondern als einen Wißbegierigen, dessen Jagd explizit als bewußte Wahrheits- und Erkenntnissuche interpretiert wird, der seine Hunde, seine Leidenschaften und seine Gedanken ganz zielgerichtet aussendet, um von ihnen zum Ort der Erkenntnis geführt zu werden“, wie Kurator Beat Wismer im Katalog schreibt.

Der US-amerikanische Fotograf George Platt Lynes lenkte mit seiner erstaunlich modern wirkenden Actaeon-Interpreation 1937 die Blickrichtung von Diana um auf Actaeon. Die Düsseldorfer Ausstellung zur „Blickbegierde“ weicht sogar der „verbotensten und leidbringendsten (männlichen) Begierde, der sogenannten Pädophilie“ (Bernd Gruber im Katalog) nicht aus. Gruber fragt, ob Anblick oder gar Produktion von heute als heikel angesehenem Material „eine moralische, existentielle oder gar metaphysische Schuld“ mit sich bringe, und wenn ja, bei wem diese zu verorten sei: „Beim posierenden Objekt, beim Betrachter oder doch beim Fotografen?“ Gerade die Fotografie bewege sich „im Bereich des Verbotenen“ und „wir bewegen uns in verbotenen Zeiten.“ – Das klingt fast wie eine Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen.