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Frauenhelden, Phaserwaffen

Einen Abend voller Sex & Crime in der Düsseldorfer Tonhalle erlebte Dirk Ruder

Der Discjockey in der Rotunde legt black music auf. „Sex and Crime“ steht an diesem sommerlichen Juni-Abend auf dem Programm in der Tonhalle. Passend dazu stimmt der DJ im Foyer des Düsseldorfer Konzerthauses das Publikum schon mal mit Bobby Hebbs „Sunny“ von 1966 auf die heutige Ignition ein.
Eigentlich richtet sich die Konzertreihe „3-2-1 Ignition“ an ein junges Publikum, doch sind die moderierten Konzerte derart charmant, daß regelmäßig die halbe Landeshauptstadt im Saal sitzt, wenn Düsseldorfs Symphoniker die Veranstaltung traditionell mit John Williams’ monumentaler und immerhin Oscar- wie Grammy-gekrönter „Star Wars“-Titelmusik eröffnen, während auf der riesigen Leinwand hinter dem Orchester NASA-Raketen von der Startrampe abheben. Mit der Ignition hat es die Tonhalle geschafft, für Menschen zwischen sechs und sechsundsechzig gleichermaßen als cool zu gelten. „Wenn Jugendliche eins nicht wollen, ist das von Erwachsenen erzählt zu bekommen, wo es lang geht. Also bitte: Keine Kinderkonzerte und erst recht keine Familienkonzerte für junge Menschen. Ignition ist der Tonhallen-Weg für Jugendliche: Ohne Zwangsbeglückung, entspannt, spannend und immer wieder neu“, lautet die von der Tonhalle ausgegebene Parole. Das wollen sich auch viele Erwachsene nicht entgehen lassen. Schulklassen mit Musiklehrerin, Rentner mit Konzertabonnement, Kinder im Sonntagsanzug und erstaunlich viele jugendliche Freaks wuseln durchs Foyer, das mit seinen geschwungenen Betonträgern und den futuristischen Röhrenlampen wie eine diskrete Reminiszenz an die Kommandobrücke des Raumschiffs Enterprise wirkt.

Instinktiv sucht man nach versteckter Science-Fiction-Technik. Sind die aus der Decke ragenden tellerartigen Gebilde wirklich die Düsen der Klimaanlage oder kann mit den Vorrichtungen notfalls auch gebeamt werden? Und ist die für einsfünfzig am Getränkestand angebotene Bionade nicht eigentlich Alien-Coke? Im Konzertsaal fühlt man sich gleich gar nicht mehr wie auf dieser Welt: Das Ding schwebt drei, vier Stockwerke über dem Foyer. Durch die metallisch leuchtenden Verblendungen der riesigen Kuppel scheint der Abendhimmel zu schimmern, doch das können nun wirklich nur raffinierte Lichteffekte sein, denn die Tonhalle hat überhaupt keine Glaskuppel, durch die man nach draußen blicken könnte. Wenn man indes hörte, in diesem Ambiente tagte heimlich der Intergalaktische Rat mit dem Düsseldorfer Dirigenten Kevin John Edusei an der Spitze – man würde es sofort glauben. Schlank, schwarz und hochgewachsen wirkt Edusei im eleganten Anzug wie der nettere Zwillingsbruder von Supermodel Bruce Darnell. Auch wenn beim heutigen „Sex and Crime“-Abend musikalische „Tobsuchtsanfälle, Wut, Eifersucht und Streitereien“ auf dem Programm stehen: Eduseis Dirigat ist niemals oberflächliche Show, nie billiger Firlefanz. Sein Taktstock schwingt konzentriert und ökonomisch, so als gelte es, ein allzu groß geratenes Raumschiff mit ruhiger Hand sicher durch einen dafür nicht vorgesehenen Asteroidengürtel zu steuern.

Ganz anders Moderator Michael Becker, der nach der „Star Wars“-Overtüre mit einem Flyer wedelnd eine Arie aus Mozarts „Don Giovanni“ ankündigt. Für das junge Publikum gibt es jetzt was vom dem Erwachsenen auf der Bühne zu lernen. Daß man einen Flyer auch Leporello nenne, habe nämlich seinen Grund bei „Don Giovanni“. Gewissenhaft habe Don Giovannis Diener, ein Mann namens Leporello, die zahlreichen Affären seines Herrn – Frauenheld und Bösewicht – in ein kleines Heft eingetragen. Deswegen werde das Mozart-Stück auch Register-Arie genannt und hätten Flyer bis heute einen Zweitnamen.

Nach dem eher lieblichen Mozart wird es ernster. Auf die vom Baßbariton Rolf A. Schneider gegebene Mozart-Arie folgt ein Madrigal in der Fassung von Igor Strawinsky (1882-1971). „Es geht um einen Mörder, der niemals belangt wurde“, erläutert Becker. Danach ein Striptease. Warum auch nicht? Wo doch die Symphoniker ohnehin gerade dabei sind, den lieben Kleinen im Konzertsaal etwas übers Leben beizubringen, darf der Tanz der sieben Schleier aus „Salome“ auf keinen Fall fehlen. Richard Strauss (1864-1949) schrieb die Oper nach dem gleichnamigen Drama Oscar Wildes. Für den von ihr dargebotenen Tanz fordert Salome, die Tochter des römischen Statthalters, den Kopf des Propheten Johannes. Offenbar konnten leichtbekleidete Tänzerinnen schon Wucherpreise für ihre Darbietungen verlangen, als der Kapitalismus noch gar nicht erfunden war – die Handlung datiert immerhin zu Zeiten des biblischen Königs Herodes Antipas um Christi Geburt. Während das Orchester spielt, erscheinen auf der Leinwand hintergründige Filmschnipsel mit Gottesanbeterinnen. „Richard Strauss war ein rechtschaffener, auf den ersten Blick sehr braver Bürger, der sich in seinen Opern austobte“, merkt der Gastgeber an. Salomes Schleiertanz sei „die älteste verbürgte Stripteasenummer der Geschichte“.

Im Anschluß an die Pause dann der Mackie-Messer-Song aus der 1928 in Berlin uraufgeführten „Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill. Diesmal muß eine Frau dran glauben, weil sie Mackie, dem Ganoven, in die Hände fällt. „Brechts Text ist eisenhart, während Kurt Weills Musik so tut, als ob nichts passiert“, erläutert Becker. Im Anschluß schnell noch eine „Angeber-Arie“ (Becker) aus Bizets „Carmen“, dazu Ravels Bolero als „ein Stück ankündigter Ekstase“, und mittendrin Aaron Coplands (1900 -1990) „Gun Battle“ aus dem 1936 fertiggestellten Werk „Billy the Kid“. Coplands Ballett (!) handelt vom gleichnamigen US-amerikanischen Westernhelden, der 1881 im Alter von Mitte zwanzig hinterrücks erschossen wurde. Billy the Kid wird in der populären Kultur gern als blutrünstiger und gewissenloser Serienmörder dargestellt, tatsächlich aber gehörte er zu einer Gangsterbande, mit deren Hilfe mächtige Rinderbarone im Süden der Vereinigten Staaten einen Wirtschaftkrieg gegen aufsteigende Kaufleute anzettelten. Große Stunde für die Schlagzeuger. „Man hört in Coplands Stück tatsächlich Salven aus Maschinengewehren. Das ist kein Anachronismus. Zu Zeiten Billy the Kids gab es Maschinengewehre schon“, weiß der Moderator. Wieder was gelernt.

Am Ende des „Sex and Crime“-Abends konnte sich das Publikum sogar ungefähr vorstellen, wie Coplands Stück wohl geklungen haben könnte, wäre Billy the Kid nicht Gangster, sondern Koch geworden und hätte zwischen Hamburgern und Bratkartoffeln sein junges Leben ausgehaucht. Für den von der Tonhalle ausgerufenen Wettbewerb „Neue Töne!“ war ein Ton gesucht worden, „der so sonderbar, schräg oder abnorm individuell ist, daß die Welt ihn so noch nicht gehört hat“. Die Gewinner wurden an diesem Abend prämiiert, und die Favoriten können noch eine Weile auf der Hompepage www.junge-tonhalle.de angehört werden. Dritter Platz: Trompete, die Plopp macht. Zweiter Platz: Weinglas an E-Gitarre. Gewonnen hat den Wettbewerb „Beat Cuisine“, ein kurzer Track aus musizierenden Küchengeräten. Ein Klang wie Phaserwaffe auf Mikrowolle. – Hättest du hören sollen, Billy!