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The Making of Gays

Ende Oktober 2005 gab eine Email an die „liebe Gigi-Redaktion“ der Vermutung Ausdruck, „daß ihr womöglich Interesse daran haben könntet, mein Buch über schwule Coming-out-Inszenierungen für die Gigi zu rezensieren, zumal ich darin eine sehr kritische Einschätzung der Entwicklung von Coming-out-Strategien und der Schwulenbewegung innerhalb der letzten dreißig Jahre liefere“. Zur Information hatte der Absender den Werbe-Flyer des Verlages angehängt. „Falls ihr Lust hättet, das Buch zu besprechen, würde ich mich natürlich sehr freuen.“ Die Lust hielt sich zunächst in Grenzen, doch dafür entschuldigen wir uns beim Verfasser der freundlichen Email, Dr. Volker Woltersdorff, nun auch mit gleich zwei Besprechungen. Die erste davon verfaßte Lutz Graf

In Zeiten, da die sichtbare Mehrheit der Lesben und Schwulen mit der Etablierung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft endgültig im neoliberalen Mainstream eingehegt ist und die Frontlinien der spätkapitalistischen Gesellschaft und ihrer Kontrollmechanismen für den Einzelnen ob hetero, schwul, lesbisch oder transgender glasklar werden (ein Hartz IV-Empfänger interessiert sich logischerweise nicht für das hohe emanzipatorische Gut „Verpartnerung“; er läßt sich scheiden und schmeißt seinen Mann, Frau, Transgender vor dem Frühstück aus dem Bett, Zahnbürste nicht im Bad stehen lassen!) ist ein junger Berliner Wissenschaftler damit befaßt, eine Geschichte des Coming-out im marxschen Sinne als Vorgeschichte zu schreiben, „denn erst mit dem historischen Ende des homosexuellen Triebschicksals können die Einzelnen in die Geschichte eintreten.“ (S. 40/41)

Dies ist der Ausgangspunkt von Volker Woltersdorff, dessen erweiterte Dissertation schon im letzten Jahr bei Campus unter dem Titel „Coming out. Die Inszenierung schwuler Identitäten zwischen Auflehnung und Anpassung“ erschienen ist. Mit dieser Arbeit gelingt ihm trotz des forciert akademischen Duktus eine Geschichte des Schwulseins (auf das „vor“ kann hier getrost verzichtet werden) vom mythisch-kollektiven Coming out des „Stonewall-Aufstandes“ bis heute. Als Material dienen dabei ausschließlich in irgendeiner Weise zugänglich gewordene Coming-out-Erzählungen vom Foto bis zur Literatur. Darin folgt der Autor der diskursiven Tradition eines Michel Foucault, auf den er sich auch immer wieder bezieht.

Woltersdorff breitet eine Fülle von Material auf fast dreihundert Seiten aus, das, gut geordnet, doch manchmal das Wesentliche zu verschütten scheint. Der Bogen spannt sich dabei von den radikalen schwulen Bewegungen der 70er – „Laßt uns ein, zwei, drei , viele Stonewalls schaffen!“ – bis zur Herausbildung eines ausdifferenzierten neoliberalen, schwulen Subjekts – das als der Marktteilnehmer schlechthin charakterisiert wird. Dabei scheint oft die Meinung des Autors hinter referierten Positionen zu verschwinden. „So hat Pollak folgerichtig die Funktionsweise der schwulen Subkultur als einen sexuellen Markt beschrieben. Schwule Sexualität zeichne sich durch einen hohen Grad an Autonomisierung und Rationalisierung aus, die auf Effizienz und Ökonomie ausgerichtet sei. Diese Ökonomie basiert auf einem Tauschverhältnis von Orgasmen bei dem die einzelnen Subjekte als Anbieter beziehungsweise Nachfrager auftreten.“ (S. 262)

Das mag mehr den Zwängen des akademischen Diskurses geschuldet sein als fehlendem Mut. Statisch wirkt, daß durch alle untersuchten Einzelbereiche immer wieder die These von der Dialektik von Auflehnung und Anpassung bewiesen werden muß. Dabei verstellt die Konzentration auf diese Dialektik oft den Blick. Besonders auffällig wird das im Unterkapitel Pornographie, das zuwenig zwischen vermeintlicher Pornographie – als Ausgrenzung der künstlerischen Darstellung unerwünschter Sexualitäten – und Pornographie als marktgängige Fetischisierung von Sexualität unterscheidet. Trotzdem gelingt dem Autor auch hier eine Kritik der Subkultur, die Marktgesetzen gehorchend „ein Gelingen schwuler Identität (vorspiegelt), das in seiner Perfektion der Wunschproduktion der Leser beeinflussen und Coming-out-Wünsche entfachen kann, die später auf ihre Verwirklichung drängen.“ (S. 241)

Sehr gelungen hingegen ist – jenseits aller sexualwissenschaftlichen Diskurse – der Nachweis, daß schwule Identität erst im Sprechakt des Coming-out entsteht und daß dieser Sprechakt, der dem Zwang zur Bestätigung und Wiederholung unterliegt, erst ein schwules Leben zuläßt, also soziale Wirklichkeit erzeugt. Woltersdorff folgt hierin der Auffassung Judith Butlers von der „sozialen Magie“ performativer Äußerungen. Folgerichtig bezeichnet Woltersdorff das Coming-out als „ermächtigende Selbstermächtigung“, aber zugleich auch als einen Sprechakt der „Selbstunterwerfung“. „Erst muß die Autorität eines Identitätskonzeptes und seiner Spielregeln anerkannt werden, ehe diese Autorität machtvoll herangezogen werden kann. Die Wirksamkeit der Performativa ergibt sich nicht einfach aus der Einhaltung von Regeln, sondern aus der Existenz von Machtinteressen, die ihr Gelingen und Mißlingen garantieren.“ Schwule Identitäten ordnen sich so in die heterosexuelle Matrix (Butler) und ihr subversives Element, das diese Matrix stört, also die Heteronormativität des Patriarchats, verliert sich, indem sich die Coming-out-Erzählungen individualisieren, dabei aber einer normativen Struktur folgen, die Woltersdorff plastisch herausarbeitet. Der kollektiven Coming-out- Erzählung der radikalisierten Stonewall-Generation folgt nun die angepaßte, die eigene Biographie zum Teil zerstörende Erzählung des Einzelnen, der dem Zwang der „Urerzählung“ folgend nun seinerseits einer Homonormativität unterliegt und sich so in ein Ghetto hinein emanzipiert, in das die Gewalt, vor der es schützen soll, zumindest strukturell zurückkehrt. Sehr eindringlich analysiert Woltersdorff so das Entstehen eines bürgerlichen gay lifestyles, der in der neoliberalen Mitte der Konsumgesellschaft Platz nimmt und seinerseits die ökonomischen Verlierer ausschließt, ob sie nun Männer lieben und begehren möchten oder nicht.

Der radikale Neuansatz des queer movement in den USA wird von Woltersdorff in diesem Zusammenhang etwas unterbelichtet, vielleicht auch, weil das Diskursmaterial von Europa aus zu unübersichtlich oder die verständliche Beschränkung auf das schwule Coming-out ihm dies zu verbieten scheint. „Queere Alternativen zum klassischen Coming-out treiben die Individualisierungstendenz des Coming-out auf die Spitze, indem sie es im Namen individueller Autonomie ablehnen und sich zugleich darauf berufen. Damit stellen sie die maximale Sichtbarkeit individueller Differenz wieder her, die sich im schwulen Einerlei verloren zu haben schien.“ Dieses Woltersdorffsche Fazit (S.103) überrascht, wird aber von ihm nicht weitergedacht.

Da die alten Kämpen von queer wie Bruce LaBruce jetzt im popkulturellen Mainstream angekommen zu sein scheinen oder sind, erklärt Woltersdorff diesen Ansatz für historisch, was zu bezweifeln ist beziehungsweise sein wird. Scheint er doch vor einem politischen Hintergrund, der Millionen von der gesellschaftlichen Teilhabe ausschließt und somit zwangsoutet (nichts anderes geschieht mir der Kriminalisierung von Arbeitslosigkeit respektive Arbeitslosen durch Hartz IV) neue Bündnispolitiken entlang der wirklichen Frontlinien des Spätkapitalismus zu ermöglichen. Die Inbesitznahme des Begriffes „queer“ durch einen Teil der schwul-lesbischen Bewegungsschwestern in Deutschland rechtfertigt nicht, sich von der Arbeit an der Utopie auch um den Preis der Nichtidentität zurückzuziehen. Das kritische Lesen dieser Vorgeschichte des Coming-out, in keinem Fall eine leichte Lektüre, sei allen empfohlen, die mit dieser Arbeit nicht aufhören können oder wollen und die daran arbeiten, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx).

Volker Woltersdorff: Coming out. Die Inszenierung schwuler Identitäten zwischen Auflehnung und Anpassung“. Campus Verlag Frankfurt am Main/New York 2005. 300 Seiten, 24,80 Euro