Nur
350 statt wie im Vorjahr knapp 1000 Augenzeugen vermißten
alles andere als die nachfolgenden Informationen beim diesjährigen Symposium
HIV im Dialog am 20. August in Berlin. Staunender Beobachter zwischen
Oberknüller und Workshops war Ortwin Passon
Berliner feiern gern. Die Gala wird ein Oberknüller! Wenns dabei
auch noch ein bißchen Charity gibt warum nicht?, frohlockte
Jessica Witte-Winter von der gemeinnützigen Vergessen-ist-ansteckend
GmbH auf der Eröffnungspressekonferenz zum Berliner Symposium HIV
im Dialog 2005.
Das Sein
bestimmt bekanntlich das Bewußtsein: AIDS als Event für die Schönen
und Reichen der Sexhauptstadt (Tourismuswerbung des Senats)?
Da kann ein wenig Barmherzigkeit und Nächstenliebe doch nicht schaden,
wird sich Frau Witte-Winter gedacht haben. Kaikawus Arasthéh, der
Erfinder des Reminders Day (Tagesspiegel), beeilte sich nachzuschieben:
Im Gegensatz zu den beiden anderen vergleichbaren Themenabenden der Kapitale
wolle die HIV-im Dialog-Party auch Content vermitteln.
Auch. Worte transportieren Inhalte. Auszeichnungen ebenfalls.
Krankenkassengift
Es
ist schrecklich und total bescheuert. Man hat ja schließlich auch Verantwortung
gegenüber dem anderen, erklärte Peter Plate vom Popduo Rosenstolz
auf die Frage: Was sagst du dazu, daß immer mehr Bareback-Partys
stattfinden? anläßlich der von ihm vollgesungenen CD Kassengift.
Ihm, der so mutig öffentlich jene kränkte, die keine Lobby haben
und sich dennoch das Recht auf Verwirklichung eines normwidrigen Lebensentwurfs
herausnehmen, und seiner Mittäterin AnNa R. wurde in der Nacht zum 21. August
durch Klaus Wowereit (SPD) der ReD Award verliehen. Eben jenem
Wowi, über dessen offizielles Erscheinungsbild
als respektabler schwuler Mustermann Eike Stedefeldt in seiner Polemik Ficken
im luftleeren Raum für die Anthologie Mein schwules Auge
2003 schrieb, auch bei ihm taucht doch die Frage gar nicht erst auf,
ob der Fleck auf der Anzughose Kaffee- oder Boysahne ist: Man weiß sofort,
der hat sich noch nie tiefer, tiefer! auf dem Spülkasten
der Senatskanzlei-Toilette abgestützt.
Zweite Preisträgerin war die thailändische Pharmazeutin Krisana Kraisintu, die von der Frauenuniversität Mount Holyoke in Massachusetts mit dem Ehrendoktor in Medizin ausgezeichnet worden ist und außer einem Präparat gegen Malaria auch ein Aidsmedikament fabrizierte, das nur einen Bruchteil des Originalpräparats kostet. Immerhin: Vom Deutschen Medikamenten-Hilfswerk action medeor ließ sie sich co-finanzieren. Und um Finanzen und Lobbyarbeit ging es ja schließlich auch ein wenig beim diesjährigen Symposium HIV im Dialog, auch wenn das die Verantwortlichen nicht so gern hören.
Angekommen
und anerkannt
Wie war
das doch gleich mit Ziffer 7 des Asklepiadenschwurs? In welche Häuser
ich auch immer eintrete, ich werde sie nur zum Nutzen der Kranken betreten
und mich dabei jeden vorsätzlichen Unrechts und jeder schädigenden
Handlung enthalten. So heißt es im Hippokratischen Eid, der Selbstverpflichtung
von Ärztinnen und Ärzten. Vergessen sollte man nicht, daß
HIV im Dialog inzwischen angekommen ist vergangenes Jahr
noch im Russischen Haus der Wissenschaften zu Berlin als Tagungsort, 2005
bereits gänzlich im Roten Rathaus des Landesherrn. Der auch so seine
Prinzipien hat: Ich schwöre, mein Amt gerecht und unparteiisch,
getreu der Verfassung und den Gesetzen zu führen und meine ganze Kraft
dem Wohle des Volkes zu widmen. Besagt zumindest die Eidesformel nach
dem Berliner Senatorengesetz, die den Kabinettsmitgliedern des Regierenden
Bürgermeisters unabhängig von ihrer sexuellen Präferenz
abverlangt wird, bevor sie ihre Geschäfte verrichten dürfen.
Dank Mathew D. Roses 2003 erschienenem Wirtschaftskrimi Eine ehrenwerte
Gesellschaft zur systematisch betriebenen Ausbeutung einer Metropole,
in der illustre Parade-Homos wie SPD-Wowi und Ex-Finanzsenator
Peter Kurth (CDU) schillernde Rollen spielten, fand deren Umverteilungskompetenz
auch jenseits zahlungskräftiger Bevölkerungsgruppen bundesweite
Anerkennung: Beide wurden dank ihrer Verarmungspolitik keinesfalls Parias
der homosexuellen Subkultur. Im Gegenteil feiert man sie längst als renommierte
Mitglieder des Kuratoriums der Berliner Aids-Hilfe (BAH).
Sozialrechtliches
Standardwissen
Die geistige
Inhaltsvermittlung geschah dann aber doch eher tagsüber durch Vorträge
und Diskussionen im achten Monat nach Inkrafttreten des Vierten Gesetzes für
moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003.(1) Hier
hatte der Kölner Rechtsanwalt Jacob Hösl sage und schreibe 26 Minuten
Zeit, aus seiner Praxis einige anschauliche Anekdoten zum Leben mit
HIV unter Hartz IV zum besten zu geben: Das mußte zum Vermitteln
von sozialrechtlicher Standardkompetenz für AIDS-Experten reichen. Schöner
Nebeneffekt: Heiterkeit im Saal.
Das diesjährige
Symposium HIV im Dialog ist eine von der Ärztekammer
Berlin zertifizierte Fortbildungsveranstaltung. Teilnehmende erhalten 8 Punkte
für die ärztliche Fortbildung, hieß es im Programm zur
eintägigen Veranstaltung am 20. August im Berliner Rathaus. Was Hösl
und seine Gastgeber nicht thematisierten: die Rolle, Bedeutung und Inhalte
der neuen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit
im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht,
in Fachkreisen kurz AHP (2) genannt, welche Fachanwälte für Sozialrecht
und gutachterlich tätige HIV-Schwerpunktärzte gleichermaßen
routinemäßig draufhaben müssen.
Jedes
Bundesland hat bekanntermaßen seine eigene Sozialgerichtsbarkeit. Sie
entscheidet in Auseinandersetzungen zwischen Bürgerinnen und Bürgern
einerseits und den Trägern der Sozialversicherung sowie den Behörden
der Sozialverwaltung andererseits bei HIV-Positiven und AIDS-Kranken
beispielsweise in Bezug auf Renten- und Pflegeversicherung sowie Schwerbehindertenangelegenheiten
grundsätzlich gerichtskostenfrei und ohne Anwaltszwang. Wer glaubt,
in seinen diesbezüglichen Ansprüchen und Rechten verletzt worden
zu sein, hat zunächst ein Widerspruchsverfahren einzuleiten, in dem die
Verwaltung ihren womöglich fehlerhaften Bescheid nochmals überprüft
und über das Ergebnis dieser Selbstprüfung einen Widerspruchsbescheid
zustellt. Erst wenn durch diesen der bürgerlichen Forderung nicht entsprochen
worden ist, ist eine Klage vor dem zuständigen Sozialgericht zulässig
durch Einreichung eines eigenen Schreibens, durch Protokollierung einer
mündlichen Klageerhebung in der Rechtsantragsstelle des Gerichts oder
durch einen Bevollmächtigten (Rechtsanwalt, Rechtsschutzsekretär
von Gewerkschaften oder Sozialverbänden). Daraufhin fordert das Gericht
die Akten der Behörde an, um den strittigen Sachverhalt aufzuklären.
Das geschieht im Hinblick auf die Anerkennung als Schwerbehinderter
einer nahezu unverzichtbaren Voraussetzung für die spätere Beantragung
von Erwerbsminderungsrente und schließlich eventuell sogar Pflegegeld
beispielsweise durch die Einholung ärztlicher Gutachten, woraufhin
es endlich zur mündlichen Verhandlung kommen kann.
Von Anfang
an kommt daher den ärztlichen Gutachten, die beispielsweise den Antrag
eines HIV-Positiven oder AIDS-Kranken auf Anerkennung als Schwerbehinderter
nach dem Schwerbehindertengesetz belegen sollen, für die amtliche Feststellung
des Grades der Behinderung (GdB) beziehungsweise der Minderung der Erwerbsfähigkeit
(MdE) eine herausragende, unter Umständen existentielle Relevanz zu.
Um hier bundesweit die Vergleichbarkeit in der entschädigungsrechtlichen
Entscheidungsfindung der landeseigenen Sozialgerichtsbarkeiten sicherzustellen,
hat das zuständige Bundesministerium erstmals 1996 für jedes in
Frage kommende Krankheitsbild, mithin auch für verschiedene Immundefekte,
den attestierenden Ärztinnen und Ärzten einheitliche Anhaltspunkte
für die ärztliche Gutachtertätigkeit an die Hand gegeben. Diese
sind im April 2004 neu gefaßt worden und liegen in dieser neuen
Fassung seit einigen Monaten auch in gebundener Form (3) vor.
Rechtsordnender
Charakter
Obwohl
es sich bei besagten AHP weder um einen Gesetzes- noch um einen Verordnungstext
handelt, haben sie rechtsordnenden Charakter: Im Zuge der gerichtlichen
Sachverhaltsaufklärung sind sie ein das Sozialgericht in seiner Entscheidung
bindendes Kontrollbuch und somit ein zwingendes Hilfsmittel der
Rechtsprechung, während die Feststellungen der medizinischen Sachverständigen
als weiteres gerichtliches Hilfsmittel lediglich empfehlenden Charakter für
die Entscheidungen der Sozialgerichte haben. Die Anhaltspunkte ermöglichen
somit medizinischen Laien, wie sie in den Gerichten und in den Versorgungsämtern
regelmäßig als Entscheidungsträger über medizinische
Fragen anzutreffen sind, Sachverhaltsfeststellungen zu medizinischen Problemen.
Doch viele gutachterlich Tätige im HIV-Schwerpunktbereich kennen die
AHP oftmals gar nicht. Und daß ein Gericht auch medizinische Sachverständigengutachten
einholt, heißt keineswegs, daß es den Gutachterbewertungen auch
zwingend folgt: Es kommt immer wieder vor, daß die Befunde des medzinischen
Gutachters zwar korrekt, ihre Einstufung jedoch nicht nach den AHP und somit
zutreffend begründet wurden.
Wenn es
dann zur mündlichen Verhandlung kommt, der aus den dargelegten Gründen
durchaus existentielle Bedeutung zukommen kann, prüft das Gericht nur
noch die Schlüssigkeit der Gutachten in Verbindung mit den AHP, das heißt,
ob eine Einstufung in die GdB/MdE oder auch in Merkzeichen nach den Anhaltspunkten
und somit korrekt erfolgt ist. Bei HIV/AIDS als Zivilisationskrankheiten
in Verbindung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung zum Merkzeichen G
(gehbehindert) beispielsweise wird also erstens die Frage geprüft, welche
Funktionseinschränkungen vorliegen, und zweitens erfolgt die Prüfung
der Gehfähigkeit aufgrund der AHP. Bei Gutachten wegen des Merkzeichens
H (hilflos) und wegen Pflegebedürftigkeit ist es ähnlich.
Weil es dennoch seit 1996 in der sozialrechtlichen Praxis immer wieder geschieht, daß HIV-Schwerpunktärzte in Unkenntnis dieser AHP begutachten und somit nicht satisfaktionsfähige, das heißt im sozialrechtlichen Sinne unsubstantierte Texte produzieren, die ihnen spätestens in der mündlichen Verhandlung und ausnahmslos zum Nachteil der Begutachteten um die Ohren gehauen werden, sollten HIV-Positive oder AIDS-Kranke schon bei der Arztwahl die gebotene Vorsicht walten lassen. Denn fehlerhafte Feststellungen nach dem Schwerbehindertengesetz zunächst seitens der Versorgungsämter und später bestätigende Urteile derselben durch die Sozialgerichte lassen sich nur vermeiden, wenn die den Anträgen nach dem Schwerbehindertengesetz beizufügenden Atteste der HIV-Schwerpunktärzte des Vertrauens bereits auf der Grundlage der AHP erstellt worden sind.
1) BGBl.
I Nr. 66 vom 29.12.2003, S. 2954
2) Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (Hg.): Anhaltspunkte
für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht
und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX) 2004, Bonn 2004, 308 S.
3) ebenda, Bestell-Nr.: K 710