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Stöcke statt Stöckel

Juli 2037: Einander Kommentare ins Hörgerät hüstelnd, sitzen die Mitglieder der ehemaligen Gigi-Redaktion mit riesigen Weitsichtbrillen auf der Parkbank und genießen geschulten Eulenblicks das amouröse Treiben ringsumher. Der milde Sonnenschein schmeichelt ihren faltigen Gesichtern. Wer käme heute noch auf die Idee, sich für das friedliche Tun auf saftigen grünen Wiesen zu rechtfertigen?

Nach einem gesunden biodynamischen Abendessen geht’s ins polykulturelle geschlechter- und generationenübergreifende Zentrum, um das neueste Werk einer afroeuropäischen Filmerin anzuschauen. Lesben sollen darin vorkommen, ohne jedoch als solche benannt zu werden. Sie dürfen heutzutage sogar lachen, jede Menge Spaß haben und über dreißig sein! Dabei ist der Streifen nicht mal eine Komödie, sondern ein Dokfilm über das letzte afroeuropäische Kulturfestival, auf dem Angelina Maccarone und Pedro Almodóvar mit dem „Catherine-Deneuve-Preis für unermüdliches Schaffen“ geehrt worden sind. In Erinnerung an die schlimmen frühen Jahre faßten sie sich zur Verleihung zu Tränen gerührt bei den Händen. Diese Bilder, erst kürzlich via 3D-Holo-TV ins Zentrum jeder Guten Stube übertragen, gingen um die Welt.

Nun stehen wir statt auf Stöckeln auf Stöcke gestützt vor dem Gebäude, das einmal Dem Deutschen Volke sein Parlament beherbergte. Nachdem eine Weltregierung gewählt wurde, konnten diese repräsentativen Häuser endlich für kulturvolle Veranstaltungen genutzt werden. Seit der Abschaffung von Weltbank, Internationalem Währungsfonds und Militär fließt auch genug Geld, um der Menschheit eine Vielzahl kultureller Projekte zu erhalten. Die Abendsonne spiegelt sich knallrot im gläsernen Kuppeldach. Vorbei am Fassbinder-Denkmal – als bleibende Mahnung an alle Kreativen von steinernen Bierflaschen umsäumt – trippeln wir in den mit gemütlichen Sofas ausgestatteten früheren Plenarsaal. Auf kleinen runden Holztischen entlang den Wänden erwarten Tee- und Kaffeekannen die Gäste. Eine Gruppe graziler Wesen in engelähnlichen Kostümen – offenbar Hermaphroditen – verteilt selbstgebackenen Kuchen, wobei sie ihre Waren laut und fröhlich anpreist. Im Foyer hatte uns bereits ein langgezogener Tisch mit Snacks, frisch gepreßten Säften und reinem Wein begrüßt. So läßt sich’s leben.

Neben der herrlich altmodischen Leinwand nehmen Gebärdendolmetscherinnen platz, die vorderste Reihe ist für Rollifahrerinnen reserviert, vereinzelt sitzen Blinde auf einer Empore, gut erkennbar an den überdimensionalen Holo-Brain-Sound-Pic-Headphones. Am Arm einer wesentlich jüngeren Frau begegnet mir Samanta Maria Schmidt, die freudig mit einem Opernglas in der Rechten winkt – daß es so was noch gibt! Klar, daß sie sich als rangälteste Lesbenfilmforscherin Europas diese Premiere nicht entgehen läßt. Jung wirkt sie und aufgeregt wie ein Teenager. Vielleicht liegt es an der bezaubernden Lady an ihrer Seite. Leider kann ich nicht mit den beiden verweilen, denn soeben werde ich von einer Schar junger Leute mitgezogen: Ich möge nach dem Film in der Musiklounge doch ein paar alte Songs zum Besten zu geben. Wahrscheinlich werde ich mich wieder völlig verausgaben, denn es macht dem gereiften Leib immer noch Laune, zu singen und zu tanzen. Vorerst bewundere ich die Bilder an den Säulen und suche nach einem ruhigen Plätzchen, von wo aus ich die Leinwand gut im Blick habe. Da, wieder bekannte Gesichter: die Historikerin Ingeborg Boxhammer im intensiven Gespräch mit der Filmemacherin. Beim Vorbeigehen fange ich Satzfetzen auf: „In den Zeiten von Rassismus und Ausgrenzung waren Hautfarbe und Geschlecht wichtiger als Talent“, dringt es an mein Ohr.

Ja, so war das damals, und mein Langzeitgedächtnis ruft mir ein über drei Jahrzehnte altes Zitat aus Samanta Maria Schmidts „Lesbenlust und Kinoliebe“ zurück: „Dem Jugendkult wird in allen Arten von Lesbenfilmen aus Schärfste gehuldigt. Fast die Hälfte der Lesben im Film ist zwanzig bis dreißig Jahre jung. Zählt man die 25 Prozent der unter 20jährigen Jugendlichen aus den Pubertäts-Filmen noch hinzu, dann sind nahezu dreiviertel aller Filmlesben unter dreißig! Nur 22 Prozent sind in den Dreißigern, acht Prozent sind um die vierzig, und ab Ende vierzig ist die Lesbe im heutigen Film so gut wie tot! Gerade einmal zwei Prozent sind jenseits der fünfzig! Das sich tabulos gebende Kino gibt damit ein Credo aus, das alle Lesben trifft: Wenn schon Lesbe, dann bitte jung und hübsch. Es schreibt damit eine Diskriminierung fort, die alle Frauen im Kino angeht. Und es ist genau die Art der allgemeingültig-entwürdigenden Zurschaustellung von Frauen, in die sich auch die altmodische Unterscheidung zur alten und häßlichen Lesbe einfügt.“

Schön, daß diese Zeiten vorbei sind; hat sich die ganze Gigi-Plackerei am Ende doch irgendwie gelohnt.

Lizzie Pricken

Samanta Maria Schmidt: Lesbenlust und Kinoliebe. Hoho Verlag, Kirchlinteln 2005, 159 Seiten, 20,00 Euro

Ingeborg Boxhammer: Das Begehren im Blick. Streifzüge durch 100 Jahre Lesbenfilmgeschichte. MäzenaVerlag, Bonn 2007, 318 Seiten, 26,95 Euro