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Staat wieder rein in unsere Betten?


Schwarz-Rot plant die Zwei-zu-Eins-Umsetzung des „Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie“ aus dem Jahre 2001. Unmittelbare und teils drastische Konsequenzen gerade für junge Menschen im und nach dem Coming-out sowie juristische Folgen für die schwul-lesbische Ju-gendarbeit sind absehbar. Mit Lars Bergmann vom Jugendnetzwerk Lambda Berlin-Brandenburg unterhielt sich darüber Kurt Hartmann

Wie beurteilen Sie zwölf Jahre nach der Abschaffung des §175 StGB (Homosexuelle Handlungen) die möglichen Auswirkungen des geplanten Gesetzes auf die sexuelle Selbstbestimmung und Entfaltung junger Lesben und Schwuler, auf deren Coming out und Partner/innen/suche?

Die Abschaffung des §175 des Strafgesetzbuches war längst überfällig geworden und ohne Einschränkung richtig. Gerade in Berlin, wo der §175 zusammen mit dem §218 StGB zur Abtreibung nach der Wende im Gebiet des ehemaligen West-Berlins noch immer angewendet wurde, im ehemaligen Ostteil der Stadt aber nicht, war die Situation lächerlich und unhaltbar geworden. Alle damals vorgebrachten Argumente, warum dieser Paragraph abzuschaffen war, gelten bis heute weiter. Gleichzeitig war diese Abschaffung nur ein einzelner Schritt im Sinne einer Strafrechtsreform, die der Forderung, daß die Staatsmacht sich von den Betten ihrer Bürger möglichst fernzuhalten hat, entspricht.

Diese Reform hat bis heute nur in kleinen Teilen stattgefunden, das gegenwärtige Sexualstrafrecht ist weit davon entfernt, den Ansprüchen zu genügen, die an ein modernes Sexualstrafrecht zu stellen sind. Ein modernes Sexualstrafrecht müßte sich aus unserer Sicht auf den Schutz Widerstandsunfähiger und Minderjähriger beschränken und darüber hinaus sicherstellen, daß Mittel zu Verfügung stehen, um nicht einvernehmliche Handlungen zu ahnden. Strafrecht dient nie dem Opferschutz, das ist nicht seine Aufgabe, sondern einen Strafanspruch des Staates bei sozialschädlichem Handeln durchzusetzen. Opferschutz muß über zivilrechtliche Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche laufen. Dort hat die rot-grüne Koalition gewisse Verbesserungen erreicht.

Brächten Ihrer Ansicht nach die vorgesehenen Änderungen jungen Lesben und Schwulen mehr Schutz? In welchem Verhältnis stehen bei der Initiative in Ihren Augen die Pole „verbesserter Schutz“ und „repressiver Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung Jugendlicher“?

Wir begrüßen das Verbot von Entgelten für sexuelle Handlungen vor Webcams (das es gar nicht gibt, vgl. den Beitrag ab Seite 6 dieses Heftes – Gigi). Darüber hinaus denken wir, die vorgesehenen Änderungen brächten nur bedingt mehr Schutz, während die Einschränkung der sexuellen Selbstbestimmung und Selbstdarstellung mit Vorsicht zu genießen ist und wir da ein bedenkliches Mißbrauchspotential im Sinne der Repression der sexuellen Selbstbestimmung und Entfaltung Jugendlicher sehen. Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Eingriff in die Privatsphäre und der Verbesserung der Schutzmaßnahmen sehen wir nicht.

Die große Koalition stellte in ihrer Koalitionsvereinbarung unter dem Abschnitt „Rechtspolitik, Freiheit und Sicherheit“ fest, daß sich das Sexualstrafrecht aufgrund zahlreicher Gesetzesänderungen in letzter Zeit als unübersichtlich und nicht immer praktikabel erweist. Daher strebt sie eine grundlegende Reform des Sexualstrafrechts an, mit der Wertungswidersprüche und terminologische Unklarheiten beseitigt werden sollen. Sehen Sie durch die vorgelegten Änderungen und Reformen die große Koalition diesem Ziel näher kommen?

Nein. Die Situation scheint vielmehr weiter verkompliziert zu werden. Wir teilen die Einschätzung, daß das Sexualstrafrecht unübersichtlich und nicht immer praktikabel ist, würden jedoch noch hinzu fügen, daß es auch in vielerlei Hinsicht überholt und nicht mehr zeitgemäß ist.

Halten Sie es für sinnvoll beziehungsweise erforderlich, daß Staat und Politik über das Strafrecht die sexuelle Entfaltung der Bürgerinnen regeln, auch eingedenk der Tatsache, daß zum Beispiel die Lust- und Orgasmusfähigkeit des Menschen nicht an Altersgrenzen gebunden ist, sondern von Geburt an besteht?

Im Gegenteil! Der Staat hat sich, was Minderjährige angeht, nur gegen die sexuelle Ausbeutung oder den Mißbrauch und damit auch gegen die kommerzielle Nutzung von sexuellen Handlungen von Minderjährigen einzusetzen, er darf aber nicht der sexuellen Selbstbestimmung und Selbstdarstellung im Wege stehen.

Halten Sie ein solches Gesetz für praktisch umsetzbar vor dem Hintergrund etwa einer möglichen massenhaften Kriminalisierung sexuell aktiver oder interessierter Jugendlicher unter 18 Jahren?

Nein! Hinzu kommt noch, daß gerade in Fragen des Internets bisher alle Bundesregierungen in ihren Gesetzentwürfen und allzu oft auch in den dann später verabschiedeten Gesetzen ein erschreckend geringes Maß an Sachverstand gezeigt haben, folglich war auch in den meisten Fällen nur geringe bis keine Wirksamkeit der gesetzlichen Maßnahmen in diesem Bereich zu beobachten. Vor dem Hintergrund der in den letzen Jahren immer weiter verbreiteten und ausgeweiteten Praxis der staatlichen Überwachung, befürchten wir jedoch, daß dieses Gesetz durchaus wirksam umgesetzt werden kann und es zu der gefürchteten Kriminalisierung sexuell aktiver und interessierter Jugendlicher unter 18 Jahren kommen kann.

Sind verbesserte Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen Betroffener eine Alternative zum Sexualstrafrecht?

Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen sind nicht in jedem Fall eine Alternative zum Sexualstrafrecht, aber stets als Begleitung und zur Stärkung dieser Gesetze nicht minder notwendig als die Gesetze selbst!

Einer der Slogans der zweiten deutschen Schwulenbewegung lautete „Staat raus aus unseren Betten“ und hatte unter anderem die Forderung nach Abschaffung des Sexualstrafrecht zum Inhalt. Ist Ihrer Ansicht nach eine aus bürgerrechtlicher Sicht kritische Haltung zum Sexualstrafrecht für Lesben und Schwule heute noch oder wieder erforderlich und zeitgemäß?

Ja! Mehr denn je!