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Sex im Weltall

Lutz van Dijks Jugendbuch zur „Geschichte von Liebe und Sex“ bezieht viele Aspekte menschlicher Sexualität in verschiedensten Epochen ein. Ein Buch, das in ihrer Pubertät gefehlt hat, meint Lizzie Pricken

Auf einem Seminar zum Thema „Glückliche Beziehungen“ fragte der Leiter gleich zu Anfang: „Wer von den Anwesenden kann von sich behaupten, bei seinem oder ihrem sexuellen Erwachen mit Würde und Respekt in die Welt der Liebe und Sexualität eingeführt worden zu sein?“ Alle kicherten, doch niemand hob die Hand.

Obwohl sich die Situation hinsichtlich der „Aufklärung“ junger Menschen gewiß im Wandel befindet und es – auch für Angehörige sogenannter sexueller Minderheiten – einiges an Literatur und Ratgebern gibt, fehlte es offenbar an einem Standardwerk für die Schule. Das nun vorliegt. Und wie das in schultauglichen Werken so üblich ist, fängt der Autor auch gleich am Anfang an. In diesem Fall nicht bei Adam und Eva, sondern noch ein paar Tage früher, als das Weltall sich lasziv räkelte und in einem kosmischen Orgasmus unser Sonnensystem gebar. „Mit dem ersten Sex vor gut zwei Milliarden Jahren beginnt eine Geschichte auf Leben und Tod.“ Wow, harter Tobak für eine Zwölfjährige! Dann geht es munter weiter: „Vor gut 30 Millionen Jahren leben die ersten Früh-Menschenaffen, auch Hominiden genannt, die immer geschickter im Gebrauch ihrer Hände werden.“ Was das mit Liebe und Sex zu tun hat? Davon mag man mit zwölf vielleicht noch gar keine oder erst vage Vorstellungen haben, aber zwölf ist ungefähr das Alter, in dem die Hände immer geschickter eingesetzt werden. Denn: „Liebe und Sex gehören von Anfang an zu den elementaren Bedürfnissen der Menschheit.“

Unvermittelt fragt van Dijk: „Wo haben intellektuelle Anstrengungen und kulturelle Traditionen uns geholfen, den Trieb nicht nur zu beherrschen, sondern besser zu verstehen und für die menschliche Entwicklung zu nutzen?“ Woher nimmt er derartige Axiome? Ach, von Desmond Morris, der laut van Dijk nachwies, daß Sex in der frühen Menschheitsgeschichte nie allein der Fortpflanzung gedient habe, sondern immer auch der Sicherung sozialer Beziehungen zwischen Menschen, die für die Aufzucht von Jüngeren verantwortlich seien. Womit wir quasi doch wieder bei Adam und Eva landen, den beiden nackten „Affen“, die offenbar – oder zumindest laut Bibel – besser nicht die Fortpflanzung für sich entdeckt hätten. Hier öffnet sich das Lehrbuch für Schöpfungsmythen wie die der australischen Schlangen-Mutter, der chinesischen Göttin Nü Wa oder den fünf Welten der Navajo-„Indianer“. Damit wie mit vielen eingefügten und zumeist persönlich geführten Interviews mit Jugendlichen aus allen Ecken der Welt schafft van Dijk den globalen Rahmen für Geschichte(n), die sich nicht nur spannend lesen, sondern auch jenem interkulturellen Anspruch gerecht werden, den unser Bildungssystem so gern für sich in Anspruch nimmt, ohne zumeist zu wissen, wovon es da spricht.

Nicht so van Dijk, der zunächst Lehrer in Hamburg war, bevor er Mitarbeiter im Amsterdamer Anne-Frank-Haus wurde. Er lebt seit einigen Jahren in Kapstadt und war dort Mitbegründer der Stiftung HOKISA, die sich für von AIDS betroffene Kinder und Jugendliche einsetzt. Seine bisher erschienenen Jugendbücher wurden in entsprechend viele Sprachen übersetzt – dazu gehört neben der 2001 erschienenen „Geschichte der Juden“ auch „Die Geschichte Afrikas“ aus dem Jahr 2004. Dem heutigen wissenschaftlichen Kenntnisstand gemäß legt er die Wiege der Menschheit auf diesen „schwarzen“ Kontinent und fügt aktuelle Beispiele von Nomaden-Liebe bei den nordwestafrikanischen Wodaabe in seine Völkerkunde. Aber auch AIDS und Sex werden durchaus benannt, leben doch von den weltweit insgesamt über 40 Millionen an HIV erkrankten Menschen allein 29 Millionen im südlichen Afrika, womit alle Länder südlich der Sahara gemeint sind. „Jeden Tag sterben hier rund 6000 Menschen, überwiegend junge, sexuell aktive Leute im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Im Staat Südafrika allein sind es 800 Todesopfer pro Tag“, berichtet der Autor und nennt als Ursachen Tabuisierung von Sexualität und fehlende medizinische Versorgung. Dabei nimmt er kein Blatt vor den Mund und zitiert die Schriftstellerin Sindiwe Magona: „Das ist nicht zuerst eine Frage von arm oder reich, sondern von Selbstachtung und Verantwortung gegenüber anderen. Meine Großmutter, eine einfache Frau, die nicht lesen und schreiben konnte, berichtete uns als Kindern, daß sie selbst – im Vergleich zu heute – ungemein frei und offen über Sex in ihrem Dorf in der Transkei aufgeklärt wurde. (...) Mädchen und Jungen durften auch ungestört Zeit miteinander verbringen, um ihre Körper gegenseitig zu entdecken und zu verstehen. Es gab abseits stehende Hütten, wo Jugendliche sich zurückziehen und nackt miteinander Erfahrungen sammeln konnten. Durch das prüde Christentum sind diese alten Traditionen völlig zerstört worden. Zuweilen sind eigenartige Bruchstücke übrig geblieben, wie zum Beispiel jene vor allem auf dem Lande neu belebten Tests und Feiern rund um die Jungfräulichkeit der Mädchen, die so isoliert auch Schaden anrichten können, wenn etwa einzelne Mädchen, die nicht mehr Jungfrauen sind, anschließend aus der Gemeinschaft ausgrenzen.“ Soviel zum Thema europäische Einflüsse.

In dem Kontext führt van Dijk neben griechischen heiligen Huren auch homoerotische Liebschaften ins Feld und erinnert uns daran, daß es ein Leben vor dem Papst gab. Da war beispielsweise der römische Dichter Ovid, der den größten Teil seines Lebens zwischen 43 vor und circa 18 nach Christi in der Verbannung verbringen mußte, weil dem Kaiser mißfiel, daß er nicht nur wunderschöne erotische Gedichte schrieb, sondern auch seine einzige Tochter eine glühende Anhängerin dieser Kunst wurde. Da war es zu der Zeit in Indien viel friedlicher, wo sogar die Fassaden der Tempel mit Darstellungen allerlei sexueller Handlungen verziert wurden und die Menschen einander offenbar eher zwanglos liebten, denn selbst in dem um 250 nach Christus geschrieben Kamasutra, dem Ratgeber für junge Liebende, steht: „Diejenigen, die wahre Liebe zueinander fühlen, benötigen keine speziellen Regeln.“ Von dort springt van Dijk nach Japan, wo schon zu jener Zeit der Shinto-Glaube herrschte, eine Naturreligion, an deren Spitze die Sonnengöttin Amaterasu steht. Der Shintoismus kennt keine Sünde, da Sex als Ausdruck der zu verehrenden Natur angesehen wird. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg mußte Kaiser Hirohito auf Druck der USA den Shintoismus zur Privatreligion erklären. Daher gab es auch niemals Strafen gegen sexuelle Minderheiten in Japan, wiewohl erwartet wird, daß eine Familie gegründet und die Rollen von Mann und Frau eingehalten werden. Auf van Dijks Streifzug durch die Historie begegnen die Schülerinnen und Schüler noch so manchen mehr oder weniger bekannten Figuren, Tarzan und Jane etwa, Sappho und Mohammed, Margaret Sanger und Alfred Kinsey, Friedrich Engels, Frank Wedekind, Helene Stöcker, Simone de Beauvoir, Alice Schwarzer und Beate Uhse. Bei solch einer Vielfalt ist es selbstredend unmöglich, mehr als nur Streiflichter auf die Vergangenheit zu werfen. Diese jedoch machen neugierig auf mehr und erfüllen so ganz ihren Zweck: informative und unterhaltsam geschriebene Aufklärung. Das ist um so bemerkenswerter, als das Thema Sexualität schließlich immer auch verbunden ist mit Unterdrückung, Gewalt und Ausbeutung. Einfühlsam gelingt es van Dijk, dabei weder ins Pathetische noch ins Banale abzudriften, er läßt im Gegenteil die „Experten“ selbst zu Wort kommen. So wie die 13jährige Maricella, die in Cebu auf den Philippinen als Prostituierte arbeitet: „Niemand hat gefragt, wovon ich das Kleid, die Schuhe und den kleinen Koffer habe. Mutter hat mich so traurig angeschaut, daß ich dachte – sie muß es ahnen. Aber sie hat nichts gesagt. Kein Wort.“

Lutz van Dijk: Die Geschichte von Liebe und Sex. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2007, 224 Seiten, 19,90 Euro