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Sex-Orgien, begleitet von Pseudomusik

Der Mann, der den Komponisten Franz Schreker als den „Magnus Hirschfeld unter den Opernkomponisten“ denunzierte, war nicht nur hoher Kulturfunktionär im „Tausendjährigen Reich“ und auch nach dessen Ende überzeugter Nazi, sondern selbst mit dem §175 in Konflikt gekommen. Eine Personalie von Karsten Bujara

"Jedes Volk braucht Lenkung, in jedem Sinne, auf allen Gebieten des Lebens.“ (1) Hans Severus Ziegler (1893-1978) schien diesem Leitgedanken der „völkischen Idee“ offensichtlich sein ganzes Leben lang unbeirrbar treu geblieben zu sein, als er im Zuge der großen Sexwelle der 1960er Jahre – mittlerweile als Gymnasiallehrer pensioniert und im Bayreuther Dunstkreis Winifred Wagners heimisch geworden – mit zwei kleineren Publikationen (2) noch einmal das „arme Deutschland“ über die „Fäulnis im heutigen Kultur- und Gesellschaftsleben“ missionarisch-propagandistisch aufzuklären versuchte. Daß seinerzeit Sex zum Lebensinhalt wurde und pornographische Hefte voller „Schmutz und Schund“ in jeder Bahnhofsbuchhandlung auslagen, mochte wahrlich nicht ins alte Weltbild des promovierten Germanisten passen. Gerade auf dem Sektor der Kunst beziehungsweise Musik, so Ziegler, hätte diese „katastrophale Entartung“ die denkbar größte Verwirrung angerichtet. Besonders erschreckend: „Die Sex-Orgien aller Schattierungen aus den Jahren 1918 bis 1933, von scheußlicher Pseudomusik begleitet, sind seit 1945 noch frecher geworden.“ (3) Da hätte man doch dem damaligen Verteidigungsminister zu dem männlichen Nachwuchs der Wehrmacht nur gratulieren können, so sehr sei die Hysterie der Beatles-Begeisterung oder die Rauschverzückung bei den „allerletzten idiotischen Negertänzen“ auch in Deutschland angewachsen.

Der Bankierssohn aus Eisenach zählte schon während der „Systemzeit“ der Weimarer Jahre zu den prominenten Vordenkern der NS-Bewegung. Nach dem Studium (Germanistik, Geschichte, Philosophie und Kunstgeschichte) nach Weimar übersiedelt, wurde er dort zunächst Journalist und Theaterkritiker für verschiedene nationalkonservative Blätter und gründete 1924 die erste NS-Wochenzeitung Der Völkische (1925 umbenannt in Der Nationalsozialist). (4) Bereits im März 1925 trat er mit Nr. 1317 der noch jungen NSDAP bei, wurde bald darauf Stellvertreter des ersten Thüringischen NSDAP-Gauleiters sowie Reichsredner der Studentenschaft. Auf seinen Vorschlag hin erhielt die Partei-Nachwuchsorganisation den Namen „Hitler-Jugend“. 1930 berief ihn Wilhelm Frick zum Referenten für Kultur- und Theaterwesen im Weimarer Volksbildungsministerium. In dieser Eigenschaft erließ Ziegler noch vor Hitlers Machtantritt den Erlaß „Wider die Negerkultur, für deutsches Volkstum“ sowie „Kulturpolitische Richtlinien des 3. Reichs“.

Ab 1933 öffnete ihm das neue Zeitalter weitere Türen. Schon im April jenes Jahres avancierte Ziegler zum Chefdramaturgen des Deutschen Nationaltheaters in Weimar, dessen Generalintendanz er 1935 übernahm. Schließlich rundeten die Pöstchen eines Staatsrates im Thüringischen Kabinett (1935) und Reichskultursenators (1937) diese glanzvolle Nazi-Karriere ab.

Besser als mit einer solcher Schlüsselposition hätte man es im kulturellen Leben des „Führerstaates“ kaum treffen können. Und dennoch offenbarte der ambitionierte Kader einen äußerst „anstößigen Makel“: Kompromittierende Denunziationen veranlaßten die Weimarer Staatsanwaltschaft im Januar 1935, ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts des Verstoßes gegen §175 des RStGB einzuleiten. Ziegler wurde daraufhin von allen zivilen sowie politischen Ämtern beurlaubt. In seiner in der Fachwelt äußerst umstrittenen Thesenbiographie über Adolf Hitlers angebliche Homosexualität sucht der Bremer Historiker Lothar Machtan nachzuweisen, daß Ziegler als homosexueller Nationalsozialist „Hitler schwärmerisch verehrte, ja liebte, der gar nicht genug davon bekommen konnte, diesen Mann zu beobachten zu erfühlen und zu erfahren“. (5) Jemand mußte allerdings im Hintergrund dieser Affäre schützend eingegriffen haben, denn bereits Anfang März wurden die Ermittlungen wieder eingestellt, da Ziegler strafbare Handlungen nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnten.

Der Verdacht der sittlichen Verfehlung blieb dennoch bestehen. Wer einmal bei den Nazis in Ungnade gefallen war, vermochte schwerlich wieder politisches und gesellschaftliches Oberland zu gewinnen. Um sich – zumindest öffentlich – von der „unglücklichen Veranlagung“ loszusagen und die gnädige Schonung durch die NS-Funktionäre zu begleichen, ergriff Ziegler fortan jede Gelegenheit zur politischen Profilierung. Höchstwahrscheinlich sind in diesem persönlichen Debakel die eigentlichen Hintergründe dafür zu suchen, daß Ziegler ab Herbst 1937 aus reiner Privatinitiative heraus und an allen staatlichen Zuständigkeiten vorbei eine Ausstellung über „Entartete Musik“ organisierte, die 1938 im Rahmen der ersten Reichsmusiktage in Düsseldorf gezeigt wurde. (6)
Ziegler wurde wegen seiner kulturpolitischen Aktivitäten im „Dritten Reich“ nie zur Rechenschaft gezogen. Er selbst verlor ebenso kein Wort des Bedauerns. Im Gegenteil. In den bereits erwähnten späten Publikationen verteidigte er nochmals nachdrücklich seine damalige Ausstellung, die „vernünftige Wege für eine deutsche Musikpflege und für eine Musikerziehung zum Segen des Nachwuchses der Musikerschaft weisen wollte“. (7) Nach verschiedenen Tätigkeiten als Privatlehrer und Leiter des privaten Essener „Kammerspiels“ unterrichtete Ziegler bis 1962 am Inselgymnasium Wangerooge. Seine letzte Zuflucht fand er vereinsamt und mittellos als freischaffender Publizist – unter anderem für die Deutschen Nachrichten der neofaschistischen NPD – in der Bayreuther Parsifalstraße. Lediglich Winifred Wagner als alte Wegbegleiterin hatte Mitleid mit Ziegler wegen dessen prekärer finanzieller Lage und veranstaltete noch bis zu seinem Tode jährlich ein Geburtstagsfest mit anschließender Geldsammlung. (8)

Quellen / Anmerkungen
1 Hans Severus Ziegler: Adolf Hitler aus dem Erleben dargestellt. Göttingen 1965, S. 221
2 Ebd. sowie ebenfalls im rechtsextremistischen Umfeld erschienen H. S. Ziegler: Wer war Hitler? Beiträge zur Hitler-Forschung, Tübingen 1970
3 Ziegler: Adolf Hitler, S. 224 f.
4 Vgl. Eintrag über Ziegler in F. K. Prieberg: Handbuch Deutsche Musiker 1933-1945. CD-Rom hrsg. von Fred K. Prieberg, Version 1.2-3/2005, S. 7967-7975.
5 Lothar Machtan: Hitlers Geheimnis. Das Doppelleben eines Diktators. Berlin 2001, S. 279; Machtans Arbeit bleibt weitestgehend fragwürdig, da bis heute keine seriösen, gesicherten Indizien gefunden wurden, die ein homosexuelles Leben Adolf Hitlers ernsthaft beweisen könnten. Vielmehr liefert Machtan zahlreiche zweifelhafte Enthüllungen, die für die zentrale These des Buches rein spekulativ interpretiert werden.
6 Vgl. F. K. Prieberg: Gründe und Hintergründe einer Ausstellung, in: Dümling/Girth: „Entartete Musik“. Zur Düsseldorfer Ausstellung von 1938. Eine kommentierte Rekonstruktion. Düsseldorf 1988, S. 196-199, sowie Albrecht Dümling: Unter Berufung auf Goethe, Wagner und Hitler. Hans Severus Ziegler und die ideologischen Wurzeln seiner Ausstellung „Entartete Musik“, in: „Entartete Musik“ 1938. Weimar und die Ambivalenz, hrsg. von Hanns-Werner Heister. Saabrücken 2001, Bd. 2, S. 496-516.
7 Ziegler: Adolf Hitler, S. 244.
8 Vgl. B. Hamann: Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth. München 2002, S. 590