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Semipermeabel


Vernissagen gehören nicht zu den von mir bevorzugten Veranstaltungen. Ich fühle ich meist ziemlich fremd: Alle Gäste scheinen unheimlich viel Ahnung zu haben. Sie stehen in kleinen Gruppen herum, reden einen Tick zu laut über tiefere Sinne der Kunstwerke, lassen mir völlig fremde Namen oder unsympathische Vokabeln wie „genial“ oder „Chiffre“ fallen oder ersatzweise ihr Sektglas; entweder, um die Aufmerksamkeit der Umstehenden endlich auf sich selbst zu lenken, oder um theatralisch einen soeben Eintreffenden in einer möglichst exotischen Fremdsprache zu begrüßen. Dann weiß man: Einer von beiden ist einer der hier gezeigten Künstler.

Unlängst bat mich eine enge Freundin, ausnahmsweise die Exposition „Norma“ des „Berliner Kunstprojekts“ in der Gneisenaustraße 33 zu beehren. Das sei ganz bei mir in der Nähe, wir hätten uns so lange nicht gesehen. So schloß ich also Bekanntschaft mit den „drei Grundarten lesbischen Lebens“, welches sich, wie ich nun weiß, unterteilt in: 1. Tägliche Existenz, 2. Erfindung und Innovation und 3. Genuß und körperliche Geselligkeit.

Zur täglichen Existenz der Lesbe von Welt gehört demnach das sperrmüllverdächtige Mobiliar in der Raummitte. Bevor sich meine hausfraulichen Ordnungsinstinkte Bahn brechen, bemerke ich, daß es sich bei den geöffneten Schubladen, herumliegenden Kissen und angegrauten Schlüpfern um eine Installation mit Collagen aus Schnappschüssen verflossener Geliebter handelt. Wirklich schön sieht das nicht aus. Ebenso realistisch sind Evi Fabians Foto-Porträts junger Budapesterinnen. Nachsichtig unterdrücke ich alte Erinnerungen an meine Ästhetik-Dozentin und ihre mahnende Frage: Wieviel Kunst steckt in bloßer Abbildung?
Besser gefallen mir jene Montagen, die mit Androgynie spielen und jenseits sexueller Präferenzen ein erotischer Genuß sind: hier ein sinnlicher Mund, da ein blondes Zwischenwesen im Pelz. Heraus ragt – siehe Foto – Adelheid Graudenz’ Porträt zweier Bräute vor einer dunkelblauen Tapete mit tiefroten Hibiskusblüten. Ihre Gesichter sind kreidebleich, die Lippen hängen schwer herab. Eine perfekte Illustration von Eheglück.

Jetzt stellen Sie sich bitte „ein semipermeables Gebilde aus Papierplättchen und Tesafilm“ vor. Klappt nicht? Ach so, weil Sie nicht wissen, was „semipermeabel“ bedeutet. „Halbdurchlässig“ klingt in der Tat nicht sehr kunstvoll, schon gar nicht nach „Erfindung und Innovation“, wozu dieses „fragmentartige Zeichen“ in einen „neuen Kontext“ setzende Kunstwerk der Kuratorin Claudia Recorean gehört. Eine ebenfalls semipermeable Muschel hielte ich, sofern illuminiert, für eine originelle Nachttischleuchte. Ihre Öffnung umkränzt schwarzes Echthaar. Verzweifelt suche ich nach dem „neuen Kontext“, weil mir im Moment nur ein ziemlich alter einfällt, der zudem ein gewisses politisches Unbehagen verursacht. Aber erstens ist dies laut Programm ein „wertfreier Raum“ mit Werken, die sich „kulturellen Zuschreibungen entziehen“, und zweitens mag die Künstlerin noch keine Lampenschirme aus Menschenhaut gesehen haben. Kuschliger als die drei – Obacht! – permeablen Kartoffelsäcke unter der Decke und diverse abgestürzte Vogelnester (ein offenbar großes lesbisches Thema!) finde ich Frika Duwes „Einladung“ – eine riesige, mit Fell ausgeschlagene Druse. Auch dies ist selbstverständlich eine original lesbische Innovation; ich vermute mal, aus dem Bereich moderne Heimtierhaltung.

Nach der vor allem dank gemeinnütziger und mildtätiger Postkartenaktionen so freundlicher Glaubensvereine wie „Brot für die Welt“, „Caritas“ und „Miserior“ schon weithin bekannten Fuß- und Mundmalerei ist mir nicht ganz einsichtig, daß die „hyperdimensionalen Gesäßmalereien“ von Chris Leiber statt in die zweite in die dritte Abteilung gehören sollen. Diese Maltechnik halte ich doch für außerordentlich innovativ und würde der Künstlerin ganz gern mal dabei zusehen, wie sie gekonnt den Pinsel hält und über die jungfräuliche Leinwand führt. Unstrittig der dritten Kategorie zuzuordnen sind hingegen Ingrid Rafaels erotische Zeichnungen und Anja Müllers – laut Kuratorin – „erotische Schwarzweißfotografien“, auch wenn man betreffend letztgenannte der Ehrlichkeit halber erwähnen muß, daß das Weiß zum Schwarz vergilbt ist. Unmittelbar daneben halten Farbbilder den Vorgang des typisch lesbischen Urinierens in freier Wildbahn fest. Da das den Ausscheidungsorganen zugehörige Antlitz nicht gerade glücklich aussieht, schlußfolgere ich messerscharf, daß es sich nicht um „Genuß“ handelt, sondern um eine Art „körperliche Geselligkeit“.

Grauenvolles Wimmern lenkt meine Schritte umgehend in den anderen Teil der kargen Fabriketage und meine Gedanken zurück zum letzten Grundkurs in Erster Hilfe. Zum Glück ist nichts passiert außer zwei Damen und einer Performance. Wieder in der Genuß-Abteilung, fasziniert mich eine eben noch nicht dagewesene Installation. Zwei volle grüne Bierkästen, eilig versteckt unter einem kleinen roten Läufer. Alkoholismus, meine Damen und Herren, ist ein großes Tabu in der Lesbenszene, hier wird es schonungslos gebrochen. Die meisten Gäste scheinen es denn auch verdrängen zu wollen und übersehen absichtlich das lebensnahe Werk, das gerade dadurch zu sozialpolitischem Rang erhoben wird.

Als ich vom Klo komme, steht auf den beiden getarnten Bierkästen eine kleine Frau. Davor hocken dreißig weitere auf dem kalten Betonboden; eine hat wohl Hämorrhoiden und darum ein Kissen aus der Sperrmüllinstallation entweiht. Eine Banausin! Als die Autorin ihre suizidale Selbstbespiegelung beendet hat, kommt eine herbe Blondine und räumt zu meinem Entsetzen das hochpolitische Kunstwerk weg. – Einfach so.

Eike Stedefeldt