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"Ein riesiges Schlachtfeld"


Am 10. Mai hielt die Gesellschaft für Sexualwissenschaft ihre diesjährige Fachtagung in Leipzig ab. Die ausgewogene Themenauswahl trug zum Gelingen der Veranstaltung ebenso bei wie die überraschenden Einlassungen und Erkenntnisse einiger Referenten, meint Sebastian Anders

Daß sich Wissenschaft – besonders die Sexualwissenschaft – nicht immer abseits der realen Lebensbezüge bewegt, zeigte die Gesellschaft für Sexualwissenschaft (1) auf ihrer diesjährigen Fachtagung am 10. Mai in Leipzig.

Nachdem sich das Internet als Medium etabliert hat und auffällig häufig im Zusammenhang mit Sexualität darüber berichtet wird, lag es nahe, zu diesem Thema eine Fachtagung unter dem Titel „Sexualität und Neue Medien“ (2) zu veranstalten. Geleitet und moderiert wurde sie unter anderem von Kurt Seikowski (Hautklinik der Universität Leipzig) und Dr. Thomas M. Goerlich (Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie der Universität Leipzig). Drei der acht Vorträge fielen dabei besonders auf.

Dr. Helmut Graupner, Wiener Anwalt und Mitglied im Vorstand des Rechtskomitees „Lambda“, das maßgeblich zur – leider keineswegs ersatzlosen – Streichung des Homosexuellenparagraphen 209 in Österreich beigetragen hat (siehe hierzu die Dokumentation auf der nächsten Seite), referierte über die erfolgreichen Bemühungen der EU-Kommission, die Kinderpornographie-Definition auf jugendliche und junge erwachsene Darsteller auszuweiten. Im Wesentlichen handelte es sich um den Beitrag, den er letztes Jahr auf der internationalen Konferenz der IATSO (3) in Wien gehalten hatte (4). Einige Teilnehmer reagierten reichlich erstaunt auf die anstehende europaweite Gesetzgebung.

Der Leiter des Sexualpädagogischen Zentrums Merseburg, Professor Harald Stumpe, ließ die Sexualität in den sogenannten Neuen Medien konkret werden, indem er Chat-Sequenzen aus einem schwulen Internetchannel vorführte und diese kommentierte. Dabei handelte es sich sowohl um Informationsgespräche wie auch um sehr direkte und zielstrebige Dialoge zur Anbahnung realer Kontakte oder von Cybersex. Stumpes dabei verwendeter Nickname „gay45“ erklärt treffend, worum es im wesentlichen ging. Weniger die Sequenzen an sich erweckten dabei das Interesse des Publikums als vielmehr Stumpes Kommentierung. Er verstand es vortrefflich, den Teilnehmern einen Eindruck von der im Internet-Chat verwendeten kurzen und knappen Sprache zu vermitteln. So verwunderte es kaum, daß sich die Teilnehmer in der anschließenden Podiumsdiskussion detailliert nach den entsprechenden Zugängen zu solchen Chatrooms erkundigten.

Einer der Höhepunkte der Veranstaltung war der Vortrag unter dem Titel „Sexualität und Kriminalität im Internet“ von Adolf Gallwitz. Der Professor an der Polizeifachhochschule Villingen-Schwenningen galt bisher als Hardliner und fleißiger Mitwirkender bei der Genese der medialen "Kinderschänder“-Hysterie; als Experte und Autor diverser Sachbücher war er in den letzten Jahren gern gesehener Gast von ARD-Anstalten über den Spiegel bis hin zu Sat 1. Seinem Image suchte er entgegenzuwirken, indem er zu Beginn seines Vortrages betonte, er sei „trotz allem kein Hardliner“. Dies gelang ihm gut, denn was er von sich gab, ließ eher an pädophile Propaganda denken. Zum sexuellen Kindesmißbrauch erinnerte er an das vom Gesetzgeber geschützte Rechtsgut der „ungestörten sexuellen Entwicklung des Kindes“ (5) und daran, wie „schwierig bestimmbar“ dies sei. Nach dem Gesetz würden keine Unterschiede zwischen gewaltsamen und gewaltlosen sexuellen Handlungen mit Kindern gemacht und auch sexuelle Handlungen unter Kindern seien schließlich unter Strafe gestellt. Der Psychologe machte deutlich, daß die „Hysterie von angeblich traumatischen Wirkungen“ von Sex in der Kindheit oft mehr „Schäden bei Aufarbeitung“ nach sich zieht als die Handlung selbst und sprach in diesem Kontext von einem Interessenkonflikt, „wenn es Organisationen gibt, die Interesse an traumatisierten Kindern haben“. Für die oft behaupteten Schäden sexueller Kontakte in der Kindheit gebe es andere Faktoren, die diese viel besser erklären könnten. So bedeute „Mißbrauch nur zu einem Bruchteil sexueller Mißbrauch“ und wir hätten es im Zusammenhang mit familiärer Gewalt mit einem „riesigen Schlachtfeld“ zu tun. Auf Kinder gerichtete sexuelle Phantasien hält er nicht für das Problem. Dies liege viel eher in den instabilen Persönlichkeiten von Tätern. Derartige Phantasien seien weit verbreitet, „viele hätten das Bedürfnis, eine Kindfrau zu heiraten“ und in Werbung für Anti-Cellulite würden häufig die Oberschenkel von Kindern gezeigt.

Anscheinend boten die ausgewogene Themenauswahl und die sachliche Atmosphäre der GSW-Fachtagung Adolf Gallwitz den nötigen Raum für eine differenziertere Sichtweise. Ansätze in dieser Richtung waren – wenn auch bisher nicht in dieser konkreten Form – schon länger zu erkennen gewesen. Die Gesellschaft für Sexualwissenschaft hat mit dieser Fachtagung jedenfalls gezeigt, daß Sexualforschung auch im Dienste des Menschen stehen kann.

1 Im Internet unter www.sexualwissenschaft.org
2 Das Programm ist im Internet zu finden unter www.sexualwissenschaft.org/Programm.pdf
3 International Association for the Treatment of sexual Offenders
4 vgl. Gigi Nr. 23, Januar/Februar 2003: „Drei Jahre Knast wg. künstlich erstellter Kinder“
5 Juristisch bedeutet dies, daß jede von außen an Kinder herangetragene Sexualität als schädlich betrachtet wird
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