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Ein Scherbengericht der Gestrandeten

Es war wohl einer meiner schlechteren Einfälle, das am Pfingstwochenende von der Bundeszentrale für politische Bildung organisierte „Geschichtsforum09“ für eine Veranstaltung zum Thema „Homosexualität in der DDR“ zu nutzen. Das Motto aber lautete so verführerisch „Wir müssen reden“. Wie wahr, zum Jubiläum von zwanzig Jahren „Mauerfall“ gäbe es tatsächlich so einiges zu diskutieren. Noch mehr und doch gar nichts zu bereden gab es, nachdem die Konfrontation von Zeitzeugen, Zeitinteressierten, Alleswissenden und Nichtswollenden vorüber war. Ein Bericht vom Initiator Florian Mildenberger

Ein kleiner Hörsaal in der Berliner Humboldt-Universität am Pfingstsonntag 2009, 11 Uhr, high noon. Vorne Klaus Laabs, Olaf Brühl und Eike Stedefeldt als berichtende Zeitzeugen und ich als nervöser Diskussionsleiter – und einziger Wessi auf dem Podium. Klaus Laabs, literarischer Übersetzer und vor allem mit seinen Übertragungen vo Werken des schwulen Kubaners Reinaldo Arenas ins Deutsche bekannt geworden, schilderte sein Schicksal als bis heute überzeugter Anhänger der kommunistischen Idee, der sich gegen einen krakenhaften bürokratischen Apparat wehrte, ungemein politisierte und dann nach 1989 feststellen mußte, daß es keine Alternative im Sozialismus, sondern nur die Flucht in den Kapitalismus gab. Es folgte Olaf Brühl mit einer ironisch-sarkastischen Rede, in der er alle Vorurteile westlicher Printmedien gegen die DDR gerafft zusammenführte. Daß sie mit dem „Dritten Reich“ vergleichbar sei, daß alle Menschen dort nur gelitten hätten und daß es ihnen an allem gefehlt habe, vor allem an BILD, Katholischer Kirche und Leni Riefenstahl. Dazwischen, quasi als Außenansicht, mein Beitrag über den Endokrinologen Günter Dörner („Ratten-Dörner“), mit dem ich vor Augen führen wollte, wie gesetzgeberische Praxis, eugenische Träume und spießige Sexualvorstellungen die DDR als Systemalternative konterkarierten. – Dörner hatte in den 1970er Jahren ein Konzept entwickelt, um Homosexuelle pränatal ausmerzen zu können und war 2002 auf Vorschlag von Klaus Wowereit für sein Lebenswerk mit der höchsten Stufe des Bundesverdienstkreuzes geehrt worden. Schließlich sprach Eike Stedefeldt, der in seinem Resümee mehr als die anderen Redner den materiellen Aspekt ins Spiel brachte. Er ließ niemanden im Raum im Unklaren darüber, welch Miefigkeit die DDR und ihre Schwulenpolitik ausmachte und zeigte zugleich auf, wie wenig kapitalistische Realität und Freiheit miteinander zu tun haben müssen, wenn man sich als politisches Subjekt und nicht nur als Penis auf zwei Beinen sieht.

Nach den Vorträgen eröffnete ich die Diskussion und fragte mich nach zehn Minuten ganz besorgt, ob ich eventuell die letzte Stunde in einem Paralleluniversum verbracht hatte. So wenig hatten viele Fragen und „Argumente“ der Disputanten mit dem zu tun, was wir eben erst vorgetragen hatten. Da war der mit brünftiger Stimme röhrende Jungwessi in der letzten Reihe, der zwar bekannte (und durch seine Rede bewies), von der Deutschen Demokratischen Republik wenig zu wissen, aber „die Mauer“ habe er gesehen und sofort gewußt, daß da was nicht in Ordnung war. Hatte auch nur einer der Redner einen Zweifel daran gelassen, daß er den real existierenden Sozialismus à la DDR für keine ideale Staats- und Gesellschaftsform gehalten hatte? Darum aber ging es nicht, der geschätzte Herr, der um so lauter brüllte, je länger er redete, begehrte einfach einen Kniefall vor der „Mauer“ und basta. Er erwirkte schließlich ein Bekenntnis von Klaus Laabs, daß die „Mauer“ natürlich als Schande und falsch begriffen wurde. Was denn auch sonst? Müssen Allgemeinplätze erobert werden? Nun hätte der Nichtswisser aus der letzten Bank weiter diskutieren können, allein: darum schien es ihm nicht mehr zu gehen. Flugs verließ er nach Veranstaltungsende den Raum, während viele andere der Anwesenden weiter miteinander sprachen.

Es folgten eine Reihe weiterer Zwischenrufe dieser Art, dann kam noch eine rege Diskussion zustande, dominiert vor allem von Halina Bendkowski, die sich zunächst als Reaktion auf den zuletzt gehaltenen Vortrag Eike Stedefeldts dazu bekannte, dem von ihm scharf als durch und durch opportunistisch kritisierten Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) ab 1999 als Vorstandsmitglied angehört zu haben. Die selbsternannte „Agentin für Geschlechterdemokratie“ sah die Diskussion in eine falsche, weil die DDR heroisierende Richtung abgleiten. Hatte sie überhaupt das Thema begriffen? Ging es darum? Hatte auch nur einer der Diskursteilnehmer im Herbst 1989 auf Seiten der Volkspolizei das verknöcherte Regime verteidigt? Klaus Laabs war verdroschen worden, als er auf die Straße gegangen war. Egal. Dann der Hinweis Bendkowskis, es gehe wohl heute häufig um „Symbole“, wenn man individuell zurückblicke. Mir lag unter dem Aspekt meines eigenen Referats zu sagen auf der Zunge, es sei wohl viel eher ein Symbol für die Erbärmlichkeit ihres eigenen Handelns gewesen, nichts zu unternehmen, als ihr LSVD-Staatsratsvorsitzender Volker Beck gemeinsam mit Ratten-Dörner in derselben Zeremonie das Bundesverdienstkreuz verliehen bekam: Beck eines der unteren Stufen, Dörner eines von den höheren. Wozu braucht es da noch eine Stasi mit Informellen Mitarbeitern, wenn man solche Blockflöten als Minderheitenvertreter hat? Aber so eine Frage wäre mir wohl als populistische Entgleisung ausgelegt worden.

Daß dann ausgerechnet aus dieser politischen Ecke die Frage an Eike Stedefeldt kam, wie er sich denn als Mitglied der „staats- und parteinahen Gruppe ‘Courage’“ heute sehe, war schon fast irrwitzig. Stedefeldt fand freundliche Worte und wies unter anderem darauf hin, daß die Staatsnähe eben auch darin bestand, von Offizieren der Staatssicherheit heimgesucht und auch nach diesem gesellschaftspolitischen Engagement „befragt“ zu werden – immer in der Ungewißheit der Zielrichtung und Zweckbestimmung solcher Interviews und der Folgen wahrheitsgemäßer oder -widriger Angaben für seine Mitstreiter. Wahrscheinlich war es dem Fragesteller darum gegangen, zu ergründen, warum sich jemand für einen sozialistischen Staat engagieren wollte, wenn es doch im Kapitalismus viel bunter ist. Doch diese Frage blieb unbeantwortet.

In diesen Zwist hinein sprach dann ein älterer Herr aus Prag, der sich als unwissender Ex-Proband von Ratten-Dörner erwies. Anfang der 80er Jahre war er in der Berliner Charité angesprochen worden, ob er an einer Studie zur Ätiologie der Homosexualität teilnehmen wolle, man bräuchte dafür nur sein Blut. Ich hoffte auf einen tieferen Diskurs und bekam stattdessen den Vorwurf, man habe sich von der Veranstaltung mehr zum Leben des DDR-Schwulen erwartet. Was war anders gewesen oder besonders? Gernn hätte ich geantwortet, ich glaubte aufgrund empirischer Forschung sagen zu können, Schwule in der DDR hätten offenbar Analverkehr praktiziert – was im Westen wohl unbekannt gewesen sei. Wie hatten Schwule wohl gelebt? Dankenswerterweise klärte das aus der letzten Reihe Peter Rausch, als Mitgründer des Berliner Sonntagsclubs ein exzellenter Zeitzeuge, in einem knackigen Statement: Sie hatten Sex, Beziehungen, One-Night-Stands, sie gingen in Parks oder Cafés, arbeiteten in allen möglichen Berufen, hatten mit Diskriminierungen zu kämpfen wie auch im Westen. Weitere Fragen in diese Richtung ließen dennoch erahnen, daß hier ein grundsätzliches Aneinandervorbeireden stattfand. Während die Zeitzeugen auf der Bühne wie selbstverständlich davon ausgingen, daß ein Leben als selbstbewußter und politisch-gesellschaftlich gestaltender Schwuler bedeutete, sich für viele Themen einzusetzen, auch jenseits des eigenen Hormonstatus‘, waren die meisten Anwesenden ganz anderer Ansicht. Ihnen ging es – allen voran Madame LSVD – darum, zu zeigen, daß man in der BRD einfach nur schwul oder lesbisch sein kann und sonst nichts! Und in der DDR konnte man eben das nicht, es gab die altbekannten Gängelungen von oben und keine Reisefreiheit, stattdessen allenfalls eine ferne Vision des Kommunismus, für die man sich hätte engagieren müssen. Und das sowohl an der Basis als auch an der Spitze des Staates. Es hatte nur am Schluß kaum noch jemand daran geglaubt. Daß sich die Mechanismen der Unterdrückung im Kapitalismus und in der bundesrepublikanischen Realität nur anders äußern und die DDR vielfach ein materiell sicherndes Refugium war, wollten oder konnten viele Anwesende nicht verstehen. Mir wurde klar: Man hätte viel tiefer ansetzen müssen, dialektischer vielleicht. Aber das geht in neunzig Minuten nicht. In der BRD hat man heute die Wahl, man kann viel Sex haben und überall hinreisen (wenn man das Kleingeld dazu hat) und sich die schrillsten IKEA-Möbel in die Bude stellen. Das ging in der DDR nicht. Die DDR bot Nischen im kleinen für die Gegenwart und im großen vage Versprechen für die ferne Zukunft, die sich heute kaum jemand vorstellen möchte, weil man im Hier und Jetzt lebt, was wiederum die Politik von oben so sehr erleichtert. Wer denkt schon ernsthaft daran, daß man im Alter arm sein oder die Gesundheitsversorgung kollabieren könnte? Wer, außer er ist schon betroffen, schert sich um die Details der Hartz-IV-Gesetzgebung? Halina Bendkowski schaffte es in ihren Redebeiträgen zweimal hintereinander, zu betonen, sie stimme Eike Stedefeldt in seiner Gegnerschaft zur „Hartzifizierung“ des Staates zu, könne ihm aber in seiner positiven Rückschau auf manche Verhältnisse in der DDR nicht zustimmen. – Gerade so, als ob es sexuelle Freiheiten losgelöst von übergeordneten Konstrukten gebe, dachte ich mir. Begreift sie denn nicht, daß die „Hartzifizierung“ eine direkte Folge der deutschen Einheit ist, durch die der bundesdeutsche Staat sich seines „jenseits von Mauer und Stacheldraht“ hausenden sozialen Gewissens entledigte? Weil der Kapitalismus nicht mehr human erscheinen muß ohne eine Systemalternative auf deutschem Boden? Daß die DDR-Strategen in gewisser Weise erst dadurch gesiegt haben, daß die sogenannten „Nebenwidersprüche im Kapitalismus“ wie die Homosexualität im vereinten Deutschland von den im LSVD desorganisierten Homophilen gleich selbst gelöst wurden, indem sie die Heterosexualisierung der Homosexualität vorantrieben und sich dabei noch für weise oder, Frau Halina, allen Ernstes für feministisch hielten? Warum sprachen die Polit-Veteranen auf dem Podium über individuelle Schicksale, während die Bewunderer des Gegenwärtigen immer in Kollektiven („die Schwulen“/„die Lesben“) reden? Wir hätten heute die Wahl, wie es weitergeht. Nur nutzen wir diese Chance nicht. In der DDR gab es am Ende noch die Flucht raus aus dem System. Dieser Weg ist heute versperrt. Die Mauer in Berlin ist verschwunden und die neuen Mauern begreifen viele Mitmenschen als Bestandteile der Freiheit. Das hätte ich wohl sagen sollen. Aber ich habe es nicht geschafft.

Beim Rausgehen wurde ich von einem Mitglied des Veranstaltungskomitees gefragt, was ich denn vom „Geschichtsforum 09“ mitnehmen würde? Ich schloß kurz die Augen und erwiderte, ich könne nun verstehen, wie Politikverdrossenheit entsteht. Dann trat ich hinaus in die Pfingstsonne.